Die Szenerie im Sommer 1992 vor den Holzhäusern in Krasnokamsk ist beschaulich. Eine Mutter spielt mit ihrem Töchterlein vor der Haustür, Birken senken ihre Zweige fast bis zu den bunten Sommerblumen am Rande der unbefestigten Straße. Der Fotograf fürchtet, ein Foto von der Situation unter blauem Himmel mit weißen Wolken könnte ein zu schönes Motiv abgeben. Denn das russische Dörfchen am Rande des Ural war für deutsche Kriegsgefangene ein Ort des Schreckens. Die heute noch stehenden Holzhäuser wurden von ihnen erbaut. Viele kehrten von hier nicht wieder heim.

Die Unterlagen, die fast 50 Jahre im Archiv der Permer Gebietsverwaltung liegen, tragen den Vermerk „Streng geheim“. Der russische Journalist Witali Kropman, der sie mit einer Ausnahmegenehmigung des Chefs der Inneren Verwaltung einsehen konnte, berichtet, der Vermerk sei nicht umsonst gewesen. Heute gibt es keine Zeugen mehr, die über das damals Geschehene berichten könnten.
Kropman ging der Geschichte des Kriegsgefangenenlagers in Krasnokamsk nach. Über das, was er fand, berichtete er in der Gebietszeitung „Permskije Nowosti“.
Es ist die Geschichte eines von über 100 000 Gefangenenlagern, die es in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Bisher waren die Archive geschlossen. Nach und nach sickert etwas an die Oberfläche, was Jahrzehnte verhindert wurde.
Niemand kann sagen, wieviele Kriegsgefangene und Internierte im Verlaufe von acht Jahren in Krasnokamsk untergebracht waren. Sie mußten im Kraftwerk, im Papierkombinat und anderen Objekten der Stadt arbeiten. Es sollen nicht weniger als 3000 gewesen sein, die am Rande des Urals Kriegsschuld abtragen sollten. Auch wieviele Anfang der fünfziger Jahre heimkehrten, vermag heute kaum noch jemand in Rußland zu berichten. Bekannt dagegen ist die Zahl der Toten, die in Krasnokamsk begraben wurden. Kropmann spricht von 330. Nach seinen Angaben befinden sich im Gebietsarchiv des Innenministeriums die Listen der Kriegsgefangenen, die von September 1944 bis 1949 in Krasnokamsk verstarben. „Unter ihnen befinden sich Deutsche, Österreicher, Ungarn, Rumänen und Polen, Männer und Frauen. Die meisten sind sehr jung gestorben und ihre Verwandten wissen wahrscheinlich heute noch nicht, wo Sohn, Bruder oder Vater ihre letzte Ruhestätte gefunden haben“, schreibt Kropman.
In Krasnikamsk gab es fünf Gefangenen-Friedhöfe. Heute gibt es nicht einen mehr. Alle wurden dem Erdboden gleich gemacht. Nichts erinnert mehr an die Soldatengräber. Der größte Friedhof lag neben dem Krankenhaus. Dort wurden von September 1944 bis Juni 1945 wahrscheinlich 159 Leichen beigesetzt. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß dies weniger ein Friedhof als vielmehr ein Massengrab war. Kropman vermutet, daß während des Krieges sich niemand um Gräber fremder Soldaten kümmern wollte. Aber auch nach Kriegsende blieben die Gräber ohne Pflege.
Immerhin gab Major Aksenjew im Juni 1949 den Auftrag, die Stelle zu besichtigen, wovor vier Jahren Leute beerdigt wurden. Der Friedhof sollte in Ordnung gebracht werden. Eine ausländische Delegation hatte sich angemeldet, um die Einhaltung der Genfer Konvention zu kontrollieren, wie verstorbenen Kriegsgefangene beigesetzt worden sind.
Doch die Kommission kehrte mit leeren Händen zurück. Eine am 7. Juni 1949 angelegte Akte enthält die Notiz: „Den Ort, an dem Kriegsgefangene bestattet worden sind, überquert heute eine Erdöltrasse. Unter anderem wurden zwei Ölbehälter sowie Erdölpumpen errichtet. Der Rest des Platzes wurde für Gärten eingeteilt, in denen Bewohner Kartoffeln anbauten.“ Elf Tage später meldete Hauptmann Ostapez, es sei unmöglich den Friedhof wieder aufzubauen.
Im April 1952 erinnerte man sich nochmals an den vergessenen Friedhof. Wie Kropman berichetet, erschien eine hochkarätige Kommission um dasselbe wie drei Jahre zuvor zu vermerken. „Deswegen… ist der Friedhof zu schließen“ heißt es. An die Akte wurde eine Liste mit den Namen der Verstorbenen gehefetet. Kropman folgert vierzig Jahre später, es scheint, als habe man mit diesem Friedhof Schluß gemacht.
Doch sieben Jahre später wird noch einmal nach den Gräbern gefragt. Eine Direktive des Innenministeriums der UdSSR vom 9. April 1959 weist an, alle Hinweise auf die Gräber zu beseitigen. Ebenso die „Einzäunung des Friedhofs“, wenn es die noch gebe. Aber ein Major Mitrofanow kann diesen Befehl nicht ausführen, weil der Friedhof schon zehn Jahre zuvor verschwunden war.
Ohne viel Erfolg versuchte Kropmann Augenzeugen zu finden. Er sprach mit Anastasija Pawlowna Sirbatschewa, ehemalige Operationsschwester des Lazaretts Nr. 207, Lagerteil 1. Sie erinnerte sich an die Gefahr, die von Kontakten zu den Gefangengen ausging, sie erinnert sich an die schwere Arbeit, an ständigen Hunger und epidemische Krankheiten, die wie „Feuer aufbrachen“.
Die Rentnerin Marija Abramowna Burolygina berichtete von Bauarbeiten Ende der fünfziger Jahre, als bei Erdarbeiten Menschenknochen gefunden wurden. Heute noch würden bei Gartenarbeiten Knochenteile gefunden.
Kropman, der die Geschichte der Gräber aufschrieb, weiß, daß er sich den Zorn von Kriegsveteranen und Häftlingen aus Konzentrationslagern einhandeln kann. Was seien schon 330 Menschen gegen die in Buchenwald, Maidanek und anderen deutschen Lagern umgebrachten Menschen, werden sie fragen. Kropman weiß das, aber er hofft, im veränderten Umgang mit Gräbern von Feindsoldaten könne sich der Eintritt in eine gründlich gewandelte Welt andeuten.
Manfred Blum, der seit den Anfängen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes in München nach dem Verbleib deutscher Kriegsgefangener forscht, kann Kropmans Eindruck, daß weder fremde noch der eigene Soldat zählte, bestätigen.
Während das DRK über die Jahrzehnte in Moskau 480 000 Anfragen nach dem Verbleib deutscher Soldaten in Rußland stellte, gab es aus Moskau kaum Anfragen, was aus sowjetischen Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft geworden ist. Der Einzelne zählte nichts.
Blum hat nach wie vor ein ungebrochenes Interesse an Namenslisten deutscher Kriegsgefangener aus sowjetischen Lagern. Doch die gibt es so selten wie früher. Obwohl russische Archive durchlässiger wurden, fließen kaum Informationen nachaußen. Denn nun soll ein Geschäft daraus werden, berichtet Manfred Blum. Russen wollen für Namenslisten D-Mark oder Computer sehen. Das Geld aber hat das DRK nicht.

Bildunterschrift: Holzhäuser im russischen Krasnokamsk – errichtet von deutschen Kriegsgefangenen

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 12.09.1992

Foto in Originalgröße

Weiterführende Quelle: Krasnokamsk bei Wikipedia

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