Die Diskussion über den Berliner Mauerbau vor 32 Jahren hat mit den Aussagen der früheren UdSSR-Diplomaten Falin und Kwizinski im Prozeß gegen führende DDR-Politiker wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze neuen Zündstoff erhalten. War die sowjetische Seite die treibende Kraft für eine Abschottung der DDR? Hat die SED-Führung lediglich einen Beschluß des Warschauer Vertrages vom 5. August 1961 vollzogen? Welche Verantwortung trägt Erich Honecker?

Immer wieder wird von ehemaligen SED-Funktionären behauptet, die Berliner Mauer sei Produkt des Kalten Krieges, Resultat gemeinsamer Beschlüsse des Warschauer Pakts, vor allem der Sowjetunion. Die DDR-Führung habe lediglich den Beschluß des Warschauer Vertrages vom 5. August 1961 vollzogen.

Diese Behauptungen sind unwahr. Bereits seit Anfang der fünfziger Jahre – mehr als ein Jahrzehnt vor der Errichtung der Berliner Mauer – hatte die SED-Führung immer wieder über Maßnahmen der totalen Abschottung Ost-Berlins gegen den Westen nachgedacht, entsprechende Maßnahmen durchgeführt, unterschiedliche Alternativen erwogen und teilweise sogar erprobt. Gewiß trug dabei zunächst Ulbricht die Hauptverantwortung, in zunehmenden Maße aber auch Erich Honecker, seit 1956 Sekretär der Sicherheitskommission des Zentralkomitees der SED und damit direkt verantwortlich für Streitkräfte, Polizei, Grenzpolizei und Staatssicherheitsdienst. Im Juni 1958 rückte Honecker als Vollmitglied in das Politbüro auf und war seit Februar 1960 Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates.

Zeitzeugen berichten, daß seit Anfang der fünfziger Jahre in der SED-Führung Abschottungsmaßnahmen diskutiert, vor allem aber direkt vorbereitet wurden. So erinnert sich Heinz Lippmann, der 1949 engster Mitarbeiter von Erich Honecker in der zentralen FDJ-Führung in Berlin wurde und im September 1953 in den Westen floh: „Schon 1952 – 1953, als die Flüchtlingszahlen im Verhältnis zu den Vorjahren sprunghaft angestiegen waren, wurde in Kreisen der Führung darüber diskutiert, mit welchen Mitteln dieser Flüchtlingsstrom zu stoppen sei.“

Auch Fritz Schenk, von 1952 bis September 1957 persönlicher Referent Bruno Leuschners, des Chefs der Staatlichen Plankommission, erlebte die Vorbereitungen für die geplante Spaltung Berlins: „S-und U-Bahnhöfe an der innerstädtischen Grenze wurden umgebaut und so eingerichtet, daß Züge rangieren und Pendelverkehr nur im Ostteil der Stadt fahren konnten. Straßenbahnen und Buslinien wurden ohnehin bereits getrennt in Ost- und West-Berlin betrieben. Durch einen Ost-Berliner Straßen- und Eisenbahnring wurde ermöglicht, West-Berlin verkehrstechnisch zu isolieren, ohne den östlichen Verkehr zwischen Berlin und der Zone zu beeinträchtigen.“

Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war der Ostsektor schon einmal total vom Westen der Stadt isoliert gewesen, so Fritz Schenk, ohne daß dies zu Verkehrsstörungen im Ostteil geführt hätte. Aber es gab weitere Planungen. 1952 war untersucht worden, ob Ulbricht seinen Staatsapparat nach Halle, Dresden oder in eine andere Großstadt der DDR verlegen könnte. Die Prüfung verlief jedoch negativ, da keine andere Stadt die mehr als 100 000 Bürokraten des SED-Regimes aufnehmen konnte. So kam die SED-Führung bereits 1952 zu der Schlußfolgerung: „Wenn das Schlupfloch West-Berlin geschlossen werden soll, dann nur in Berlin selbst.“

Hans Kroll, von 1958 bis 1962 Botschafter der Bundesrepublik in Moskau, der über ein außerordentlich gutes Verhältnis zum damaligen Partei- und Staatsführer Chruschtschow verfügte, sprach mit ihm im Herbst 1961 über den Mauerbau des 13. August. Kroll wies darauf hin, daß das deutsche Volk die Sperrmauer in Berlin als Provokation empfinde, und bat Chruschtschow, auf die nationalen Gefühle des deutschen Volkes etwas mehr Rücksicht zu nehmen. Zu Krolls Überraschung gab Chruschtschow offen zu, daß er die Gefühle der Deutschen verstehe: „Ich weiß, die Mauer ist eine häßliche Sache. Sie wird auch eines Tages wieder verschwinden“ erklärte er und verwies auf das enorme Flüchtlingsproblem der DDR – ohne auch nur mit einem einzigen Wort die Propagandabehauptung vom „Kalten Krieg“ und vermeintliche Gefahren aus dem Westen zu erwähnen. Chruschtschow weiter: „Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, daß ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu gegeben hat. Ulbricht hat mich zwar seit längerer Zeit und in den letzten Monaten immer heftiger gedrängt, aber ich möchte mich nicht hinter seinem Rücken verstecken.“

Erst vom 3.bis 5. August 1961 fand in Moskau die Beratung der Ersten Sekretäre der Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien der Länder des Warschauer Paktes statt, und es wurde beschlossen, in Berlin eine Grenze zu errichten, durch die „eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird“- eine Erklärung, die am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, in der DDR veröffentlicht wurde. Die Vorbereitung der Berliner Mauer erfolgte jedoch bereits Monate vorher.

Zu DDR-Zeiten hatte Erich Honecker – vor allem in seinem 1980 erschienen Buch „Aus meinem Leben“ – seine damalige Tätigkeit gerühmt und beschrieben: „Vom damaligen Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Walter Ulbricht, wurde mir die Vorbereitung und Durchführung der hierfür erforderlichen Aktionen übertragen… Zur unmittelbaren Operation richtete ich meinen Stab im Berliner Polizeipräsidium ein. Dort stand ich in ständiger Verbindung mit den Kommandeuren und Stäben der bewaffneten Kräfte, den Bezirksleitungen der SED Berlin, Frankfurt an der Oder und Potsdam, den zentralen Staatsorganen, dem Berliner Magistrat und den Räten der Bezirke Frankfurt an der Oder und Potsdam.“ In der Nacht vom 12. Auf den 13. August 1961 wurde pünktlich um 0:00 Uhr Alarm gegeben, und die von Erich Honecker und seinem Stab vorbereitete Aktion begann.

Eigentümlich, ja erschreckend erscheint, daß sich Erich Honecker in seinen Schilderungen überhaupt keine Gedanken über die Tragweite seines Handelns zu machen scheint, nicht einmal geringste Zweifel an der Aktion verspürt, eine Stadt durch eine Mauer zu teilen und mit Stacheldraht und Befestigung die Menschen in ihrer Freizügigkeit zu behindern – etwas, das nicht nur allgemeinen Prinzipien der Humanität widerspricht, sondern auch den ursprünglichen sozialistischen Vorstellungen.

Bis zu seiner Absetzung im Oktober 1989 hat er nicht nur keine Schuld empfunden, sondern sich überhaupt über die Bedeutung dieser Aktion nicht die geringsten moralischen Gedanken gemacht. Im Gegenteil: In seinen Memoiren weist er nicht ohne Stolz darauf hin, daß der Bau der Berliner Mauer „keine rein militärische Operation“ gewesen sei, sondern „umfangreiche politische, ideologische, wirtschaftliche und organisatorische Aktivitäten“ erfordert habe, und zwar unter strenger Geheimhaltung.

Sicher ist auch dies keine vollständige Schilderung – aber sie erscheint bedeutend klarer als das, was man von Erich Honecker nach der Wende zu hören bekam. Sie läßt keinen Zweifel darüber, daß Ulbricht für die Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 zwar eine allgemeine Verantwortung trägt, die gesamten Vorbereitungen aber in den Händen von Erich Honecker lagen.

Seit Errichtung der Mauer im August 1961, selbst noch in der Honecker-Erklärung am 3. Dezember 1992, wurden und werden von SED-Funktionären folgende unwahre Entschuldigungen und Ausflüchte angeführt:

„Die Sowjets sind schuld.“ Beständig wurde und wird von Honecker behauptet, der Bau der Berliner Mauer sei auf einer Sitzung des Warschauer Paktes Anfang August 1961 beschlossen worden; die DDR-Führung habe diesen Beschluß lediglich durchgeführt.

Das stimmt nicht. Schon seit Anfang der fünfziger Jahre hatte die SED-Führung verschiedene Maßnahmen geplant und unterschiedliche Varianten durchexerziert, um die DDR und Ost-Berlin vom Westen abzuriegeln und eine Flucht der DDR-Bevölkerung in den Westen zu verhindern. Sowohl Ulbricht als auch der seit 1956 für den Sicherheitsbereich in der SED-Führung verantwortliche Erich Honecker forderten jahrelang entschlossene Maßnahmen in diesem Bereich. Ulbricht hat, wie wir von Chruschtschow wissen, in Moskau immer wieder auf die Errichtung der Berliner Mauer gedrängt. Die jetzt stets in den Mittelpunkt gestellte Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten vom 5. August 1961 sollte lediglich die bereits seit langem in Gang befindlichen Maßnahmen nachträglich legitimieren und politisch-diplomatisch absichern.

Die Berliner Mauer sei, so lautet die zweite Entschuldung, ein Produkt des Kalten Krieges. Seit 1961 wurde dieses Argument ununterbrochen mit fadenscheinigen Erklärungen, nicht selten mit verfälschten Dokumenten propagandistisch verbreitet. Noch am 3. Dezember 1992 – in seiner Erklärung vor Gericht – behauptet Erich Honecker: 1961 bestand „eine Spannungssituation in Deutschland, die den Weltfrieden gefährdete“. Und weiter: „Die Menschheit stand am Rande eines Atomkrieges. In dieser Situation also beschlossen die Staaten des Warschauer Paktes den Bau der Mauer.“

Davon kann keine Rede sein. Niemand im Westen hatte je die Absicht, einen militärischen Angriff gegen die DDR zu unternehmen. Und auch die Zeiten des Kalten Krieges waren längst vorbei, als die SED-Führung die Mauer errichten ließ.

Nicht zuletzt sprechen die Fakten für sich: Wären Mauer und Sperranlagen als Bollwerk gegen den Westen konzipiert gewesen, hätten Minenfelder und Selbstschußanlagen ohne Zweifel westlich der Mauer, in Richtung des vermuteten Feindes gelegen. Es war hier jedoch genau umgekehrt – alle Minenfelder und Selbstschußanlagen lagen östlich der Mauer und waren daher nur dazu errichtet, Grenzübertritte von DDR-Bürgern in den Westen zu verhindern.

Immer wieder wurde – und von unverbesserlichen SED-Funktionären wird noch heute – die unwahre Behauptung vertreten, die DDR-Führung habe mit der Sicherung der Grenzen und der Wahrnehmung des Rechts, auf Grenzverletzter zu schießen, nicht anders gehandelt als jeder andere Staat. Dies ist genauso unwahr wie die beiden zuvor genannten Behauptungen. Es gibt kein demokratisches Land Europas, das seine eigenen Bürger durch Mauer, Stacheldraht, Befestigungsanlagen und Minen daran hindert, das selbstverständliche Recht der Freizügigkeit in Anspruch zu nehmen.

Fazit: Die Errichtung der Berliner Mauer, Minen, Selbstschutzt- und Schießanlagen an der DDR-Grenze sind weder ein Produkt des Kalten Krieges noch eine Maßnahme, die nachträglich einseitig auf die Sowjetunion abgeschoben werden könnte – und sie läßt sich nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, daß andere Länder ähnliche Grenzsicherungsmaßnahmen getroffen hätten.

Bildunterschrift: Ostexperte Wolfgang Leonhard und „Hauptstadt-Besichtigung“: Walter Ulbricht (Bildmitte) und Erich Honecker (Dritter von rechts)

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 13.08.1993

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Weiterführende Quelle: Panzer am Checkpoint Charlie

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