In Südtirol spricht man auch 75 Jahre nach der Teilung noch von der „Unrechtsgrenze“ am Brenner – Ressentiments werden nur langsam überwunden

Es sei eine „Unrechtsgrenze“ – keine mit Mauer und Stacheldraht, auch keine harte Trennlinie mehr, immer durchlässiger und weniger lästig empfunden, als die Mautstellen südlich und nördlich von ihr. Aber eben doch, darauf beharrt Luis Durnwalder, eine „Unrechtsgrenze“.

Der Landeshauptmann von Südtirol ist ein Virtuose des Einerseits-Andererseits. Natürlich artikuliert er den Schmerz über die jetzt 75 Jahre alte Teilung Tirols so, wie vor 1989 in Deutschland offiziell über Wiedervereinigung geredet wurde, und zwar nie laut von Verzicht. Aber er sieht auch, daß die Brenner-Grenze mit dem EU-Beitritt Österreichs noch weiter an Bedeutung verlieren wird und daß es für Grenzveränderungen in Europa „keine Mehrheiten“ gebe. Vor allem aber würdigt der 53jährige Politiker der staatstragenden Südtiroler Volkspartei (SVP), daß es seiner schmucken autonomen Provinz im italienischen Staatsverband viel besser geht, als es ihr in Österreich ginge. „Die Nordtiroler wünschen sich oft von Wien so viele eigene Zuständigkeiten, wie wir sie haben“, sagt Durnwalder mit leichter Süffisanz, „und so viel Geld, wie wir es von Rom bekommen.“

Provinz ist Vorzeige-Region

Die Provinz Südtirol, zusammen mit dem ebenfalls begünstigten Trentino Vorzeige-Region Italiens, floriert. Aber dennoch: Gut zwei Jahre, nach dem Italien und Österreich vor der Uno amtlich ihre Streitbeilegungserklärung abgegeben haben, gibt es in der Südtirol-Politik neue Unruhe. Sie wird gespeist aus verschiedenen Quellen, zugleich aber auch eingedämmt, da die herrschenden Kräfte entgegen ihrer sonst eher rüden Politik in diesem brisanten Bereich sensibel und verantwortungsvoll agieren. Einzelne Scharfmacher, die sich hin und wieder auf spektakuläre Weise führen, finden wenig Gefolgschaft. Man sei „geistig immer ein Teil Tirols geblieben“, stellt SVP-Landessekretär Hartmann Gallmetzer fest, „seit dem 14. Jahrhundert Tiroler, und das wollen wir auch bleiben.“ Die mit dem Friedensvertrag von St. Germain en Laye im September 1919 besiegelte Teilung habe man nie verwunden.

„Der Brenner ist als Scheidewand da“, sagt der NS-Widerstandskämpfer und SVP-Mitbegründer Friedl Volgger. Von gemeinsamen Sitzungen der beiden Landtage nördlich und südlich des Alpenhauptkamms hält er nicht viel. Die Menschen müßten einander näher kommen: „Das beste wäre, wenn sie heirateten täten“, so der typisch österreichische Tip des einstigen italienischen Senators Volgger. Durch Heiraten kommen sich die Menschen in Südtirol, wo sich unter den 423 000 Einwohnern 68 Prozent zur deutschen Sprachgruppe, 28 zur italienischen und 4,3 Prozent zur ladinischen Sprachgruppe zählen, tatsächlich langsam näher, aber nur ganz langsam. Die Hauptstadt Bozen – übrigens mit italienischer Mehrheit von fast drei Vierteln – wirkt immer noch wie zwei völlig unterschiedliche Städte: die Altstadt tirolerisch wie Innsbruck und auf der anderen Seite des Flusses Talfer die neueren italienischen Viertel. „Gehen Sie in die Industriezone“, übertreibt Landeshauptmann Durnwalder, „und Sie fühlen sich wie in Neapel.“

Links und rechts der Talfer fremdelt man ein wenig und pflegt noch Ängste, germanisiert oder italianisiert zu werden. Bei sportlichen und kulturellen Aktivitäten gelingt es aber immer besser, Ressentiments zu überspringen. So beim Altstadtfest im September, wenn spanische Gitarrenvirtuosen auf dem Kornplatz die einigende Kraft der Musik entfesseln und alle mitreißen. Aber die Wunden, die der jahrzehntelange Freiheitskampf geschlagen hat, sind nicht vernarbt und können schnell wieder aufbrechen.

Mauerfall belebt Phantasien

Der Einsturz der Berliner Mauer, Deutschlands Wiedervereinigung, überhaupt die Veränderungen in Europa haben auch in Südtirol einige Phantasien und Wünsche belebt. Eva Klotz, Tochter des legendären Kämpfers Georg Klotz, fordert schon immer unablässig eine Volksabstimmung über den Verbleib bei Italien: „Alle, die denken, müßten eine Zukunft ohne diesen Staat wollen, der uns im Grunde fremd ist.“ Daß es für diese Auffassung keine Mehrheit gibt, lastet sie dem Unwillen der SVP an. „Wer von Eigenstaatlichkeit redet“, so SVP-Geschäftsführer Gallmetzer, „streut der Bevölkerung Sand in die Augen.“ Auch eine „Europa-Region mit hoheitlichen Kompetenzen“, von der viele mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen sprechen, sei unmöglich. Für den festeren Zusammenhalt Tirols setzt die SVP auf die grenzüberschreitende Kooperation, deren Möglichkeiten mit dem Anschluß Österreichs an die EU erheblich größer werden. Für das kommende Jahr kündigt Nordtirols Landeshauptmann Wedelin Weingartner die Einrichtung einer gemeinsamen Tiroler EU-Vertretung in Brüssel an. Mit gemeinsamen Projekten wie einer Tourismus-Fachhochschule, Alpen-Institut, Management-Center, Landesausstellung, Symphonieorchester will er die Grenze „schrittweise unsichtbar“ machen. Sein Bozener Kollege sagt zur Entwicklung der Autonomie allerdings überraschend“ Wir sind sehr, sehr verunsichert.“

Ängste vor Italiens Rechten

Sorge macht den Südtirolern, die ihre Unterdrückung durch die faschistische Diktatur sehr präsent im Gedächtnis haben, die römische Regierungsbeteiligung der Alleanza Nazianale. „Die Neufaschisten sind nicht zimperlich mit Minderheiten“, erklärt Durnwalder. Er hat nicht die Angst, daß die Rechte in Rom das Autonomie-Statut aushebelt, wohl aber, daß sie es unterlaufen und aushöhlen könnte. In der Distanz seines hohen Alters hat Volgger diese Sorge nicht: „Wenn das geschähe, wäre es ein europäischer Skandal.“ Auf den Einwand, man könne sich die Rücknahme der Autonomie auch einbilden, meint der Ex-Senator: „Wenn sich die Südtiroler das nur einbilden, dann gibt es eben keinen europäischen Skandal.“

Karte Italien:
Die Italienische Republik hat eine Fläche von rund 301 000 Quadratkilometer (Weltrang 69) und fast 58 Millionen Einwohner (Weltrang 17). Südtirol (offiziell: Autonome Provinz Bozen, etwa 7 400 Quadratkilometer groß und mit rund 430 000 Einwohnern) hat innerhalb der 95 Provinzen des Landes einen politischen Sonderstatus, der in einem Paket autonomer Zuständigkeiten (u.a. Finanz- und Verwaltungshoheit, Schutz der deutschsprachigen Bevölkerung, ihrer Sprache und Kultur) festgeschrieben ist.

Bildunterschrift: Schloß Tirol oberhalb des gleichnamigen Ortes in der Nähe von Meran, der einstigen Landeshauptstadt von Südtirol. Die italienische Provinz ist vielen Deutschen vor allem ein beliebtes Urlaubsziel.

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 26.10.1994

Foto in Originalgröße

Weiterführende Quelle: Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919

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