Die Geschichte einer Zeichnung, die Weihnachten 1942 inmitten der Vernichtungsschlacht an der Wolga entstand

Die von Format, Material und Technik her eher unscheinbare Zeichnung des deutschen Theologen und Mediziners Kurt Reuber, entstanden in den letzten Wochen vor dem Untergang der Sechsten Armee in Stalingrad, hat bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Sie entstand in einem Meer des unsäglichen Leides, der Verzweiflung und des Todes. Um sie herum starben die Menschen zu Tausenden – Deutsche, Russen, Junge und Alte, Unschuldige, Männer, Frauen und Kinder.

Und dennoch ist sie, die Madonna von Stalingrad, auch das sprichwörtliche Abbild der Hoffnung und Ausdruck der Versöhnung. Für den unbefangenen Betrachter des Bildes stehen die Madonna von Stalingrad und Christi Geburt in Bethlehem in einem ursächlichen Zusammenhang. In Palästina wurde vor zweitausend Jahren den Menschen der Heiland geboren – in einem armseligen Stall – nur der Liebe seiner Eltern sicher. 1942, in der Hölle von Stalingrad, gab das Bildnis der Mutter mit ihrem Kind den verzweifelten deutschen Soldaten Mut und Zuversicht.

In einer mit Lehm ausgeschlagenen Erdhöhle malte der deutsche Landser Kurt Reuber Weihnachten 1942 in der Hölle von Stalingrad die Mutter mit dem Kind, seine „Madonna von Stalingrad“. Im spärlichen Schein einer Kerze entstand mit Hilfe von schwarzer Kreide und eines braunen Stiftes auf der Rückseite einer russischen Landkarte ein eindrucksvolles Kunstwerk. Der Maler mußte, wollte er sein Bild betrachten, auf sein armseliges Bretterlager oder einen Schemel steigen und von oben sein Bild anschauen. Auch Reubers Kameraden muß das Werk ergriffenhaben, als er am Weihnachtsabend des Jahres 1942 die Lattentür des Bunkers öffnete und sie eintreten ließ. An der Lehmwand hing das Bild, vom flackernden Licht einer Kerze nur unzureichend beleuchtet. Andächtig, gebannt und ergriffen betrachteten sie die Madonna mit dem Kind, umgeben von einer Welt des Hasses, der Dunkelheit und des Todes.

Die Madonna von Stalingrad und einige andere Zeichnungen Kurt Reubers konnten gerettet werden. An Bord eines der letzten Flugzeuge gelangten sie aus dem Kessel von Stalingrad. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin hat das Bild einen würdigen Platz gefunden.

Wer war der Schöpfer dieses Kunstwerkes? Kurt Reuber, am 26. Mai 1906 in Kassel geboren, war Arzt, Maler und Pfarrer. Albert Schweitzer, dessen Freund er später wurde, wies ihm den Weg zur Medizin. Sozusagen auf dem „zweiten Bildungsweg“ studierte Reuber neben seinem pfarramtlichen Dienst in Göttingen Medizin und promovierte 1938. Die Machthaber im Dritten Reich machten ihm das Leben schwer, bespitzelten ihn, hörten seine Predigten ab.

1939 wurde Kurt Reuber in die Wehrmacht einberufen und als Arzt im Balkanfeldzug eingesetzt. Im Rußlandfeldzug diente er als Seuchenarzt. Reuber muß unter den „Ereignissen“ dieses furchtbaren Krieges unsäglich gelitten haben: Den Ausgleich fand er im Malen und Zeichnen. Allein an der Ostfront entstanden 150 Aquarelle, Landschaften und Porträts. Kurt Reuber starb am 20. Januar 1944 im Gefangenenlager von Jelabuga. Sein Werk hat die Schrecken des Krieges überdauert. Überdauert haben aber auch die Kriege voller Schrecken – Stalingrad 1942/43 – Bihac und Grosny 1994: Die Mahnung der Madonna ist immer noch aktuell.

Bildunterschrift: Die Madonna zeichnete der evangelische Pfarrer und Arzt Kurt Reuber Weihnachten 1942 in Stalingrad, wenige Wochen vor dem Untergang der Sechsten Armee, auf die Rückseite einer russischen Landkarte. Auf Wunsch seiner Kinder fand das Werk seinen Platz in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 23.12.1994

Foto in Originalgröße

Weiterführende Quelle: „Vom Krieg gezeichnet“

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