Hunderttausende Rußlanddeutsche, die noch in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten leben, sitzen auf gepackten Koffern. Sie wollen jedoch nicht nach Deutschland, sondern in das Gebiet um Königsberg. Diese Menschen sind bereit, alles aufzugeben, um endlich in Frieden und Freiheit zu leben.
Die Völkerwanderung aus den Weiten der ehemaligen Sowjetunion in Richtung Westen hat begonnen. Täglich tauchen neue Siedler und „Vorauskommandos“ aus vielen GUS-Republiken im Norden von Ostpreußen auf. Die von Stalin 1941 vertriebenen Rußland- und Wolgadeutschen suchen ihr Heil in der Flucht vor erneuter Bedrohung und Diskriminierung. Sie flüchten vor der immer stärker werdenden Unterdrückung, die ständig gewalttätigere Formen annimmt.
In Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan und im Süden von Kasachstan, so berichtete der Parlamentsabgeordnete Viktor Leningaus Kraraganda, werde der Druck auf alle Deutschen und andere Europäer immer stärker. Ihre Häuser und Gärten sind nicht mehr zu verkaufen, weil ihnen nur ein Trinkgeld dafür geboten wird. So zerstören sie ihre Gebäude selbst und verschwinden sang- und klanglos. Oft dürfen sie nur 25 kg Gepäck und 5000 Rubel (ca. 70 Mark) mitnehmen. Ist jemand sogar im Besitz eines neuen Anzuges, wird auch der ihm fortgenommen.
Die Rußlanddeutschen sind bereit, alles aufzugeben, um endlich in Frieden und Freiheit zu leben. Lediglich in den geschlossenen Siedlungsgebieten, wie Altai mit 73 Prozent, Asow mit 62 Prozent und Nordkasachstan mit rund zehn Prozent Deutschstämmigen, gibt es noch keine Programme. Auch hier geht die Angst um. Das berichtete jetzt der Abgeordnete Viktor Lening in Königsberg. Nach seiner Schätzung leben allein in Rußland noch 800 000 und in Kasachstan 900 000 Rußlanddeutsche. Hunderttausende, so sagte Eduard Prnin, ein Begleiter des Abgeordneten, sitzen auf gepackten Koffern. Sie wollen nicht nach Deutschland, sondern in das Gebiet um Königsberg umsiedeln. Schätzungen besagen, daß bereits 15 000 Deutschstämmige in diesem Gebiet leben, das so groß wie Schleswig-Holstein ist.
Viktor Lening prüfte mit drei Begleitern die Situation in Nordostpreußen, um die Umsiedlung von Hunderten Familien vorzubereiten. Er sagt:“ Wir geben alles auf, um unseren Kindern und Enkeln in diesem menschenarmen Land mit seinen vielen Möglichkeiten eine neue, immerwährende Heimat zu schaffen.“ Diese Männer wissen, es gibt keine Wohnung, kein Haus, keinen Stall und keinen Brunnen. Ihre Zukunft heißt Arbeit und Entbehrung. Trotzdem sind sie fest entschlossen noch einmal neu anzufangen.
In der Wohnung des schon seit vielen Jahren in Königsberg lebenden Friedrich Ulrich werden konkrete Pläne geschmiedet. In der Beurteilung der Zukunft sind sich alle einig. Sie baten, den Menschen in Deutschland zu sagen: Wichtiger als Bekleidung und Lebensmittel sind jetzt der Aufbau einer Ziegelei, eines Sägewerkes, Beschaffung von Geld und Baumaschinen. Wie müßen bauen, um unseren Menschen ein Obdach zu geben. Da mit einer Hilfe der Regierung nicht zu rechnen ist, hoffen sie auf tatkräftige Unterstützung der Menschen in der alten Heimat.
Erster Schritt ist die Gründung einer Aktiengesellschaft, die mit großen Geldmitteln ausgestattet werden muß, um die Aufbauarbeit zu lenken. Ausdrücklich wurde von allen betont, sie wollen gemeinsam mit den Russen dieses verwahrloste Land wieder aufbauen, nicht gegen die Menschen, die dort schon wohnen.
Es gibt schon hoffnungsvolle Anfänge. Der in Trakehnen lebende Landwirt Vitaly Holzmann bewirtschaftet schon mit seiner Familie und russischen Helfern selbständig 230 Hektar Ackerland in der benachbarten Gemeinde Amtshagen. 60 Hektar sind schon sein Eigentum. Aber auch er kämpft ums Überleben. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Sämereien und Baumaterialien fehlen. Düngemittel sind kaum zu bekommen. Große moralische Hilfe bringt die Evangelische Kirche. In Königsberg und weiteren fünf Gemeinden wurden mit Hilfe der aus Kasachstan kommenden Olga und dem tatkräftigen Pfarrer Kurt Beier aus Dresden, Kirchengemeinden gegründet. Dringend benötigt werden auch Deutschlehrer. Die Älteren sind begierig darauf, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern und wollen, daß auch ihre Kinder wieder ihre Heimatsprache erlernen.
Dem kürzlich abgeschlossenen „Protokoll zur stufenweisen Wiederherstellung der Staatlichkeit der Rußlanddeutschen“ gaben Delegationsmitglieder aus Kasachstan keine Chance. Bis Januar 1992,als Präsident Jelzin einer neuen Wolgarepublik eine Absage erteilte, wollten noch über 75 Prozent der Betroffenen in das ehemalige Siedlungsgebiet zurückkehren, berichtet Lening. Nun wolle aber kaum einer mehr den beschwörenden Appellen der Bundesrepublik auf Verbleiben in den jetzigen Gebieten folgen.
Bildunterschrift: Der Dom zu Königsberg. 15 000 Deutschstämmige leben bereits im Gebiet um die Stadt. Hunderttausende sitzen auf gepackten Koffern.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 22.08.1992
Weiterführende Quelle: Kaliningrad
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