Zwischen der Südspitze der Halbinsel Hela und der Stolpebank vor der polnischen Küste rauscht eintönig die See. Nur wenige Menschen wissen, daß sich hier, in diesem Ostseeraum, in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges drei Schiffstragödien ereigneten, die in der Geschichte der Seefahrt ohne Beispiel sind. Fast 16000 Menschen, meist Frauen, Kinder und Greise, fanden dabei den Tod, sie starben auf sinkenden Schiffen, ertranken oder erfroren in eisiger See.
Die letzten Überreste dieser, aus ihrer Heimat in Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und Pommernevakuierten Menschen, haben hier, unschuldig und ungewollt, in 40 bis 70 Meter Tiefe ihr Grab gefunden, auf dem niemals Blumen liegen werden.
Sind diese Opfer eines unseligen Krieges heute schon vergessen? Kaum jemand spricht noch von ihnen.
Wer erinnert sich noch daran, daß vier Monate vor Kriegsende die große Völkerwanderung über das Meer, der Treck der Flüchtlingsschiffe begann? 1081 Handels- und Kriegsschiffe, vom Binnenkahn bis zum ehemaligen Luxus-Passagierschiff, vom U-Boot bis zum schweren Kreuzer, waren an dieser größten Rettungsaktion der Seegeschichte beteiligt. Es gelang, mehr als 2,5 Millionen Menschen über die Ostsee zu retten. Es war eine Heldentat der Humanität, an der Seeleute der Handels- wie auch der Kriegsmarine gleichermaßen beteiligt waren.
Doch der Weg über die Ostsee forderte Opfer. Viele Schiffe ging durch Bomben, Minen und Torpedos verloren. Drei Katastrophen ragen aus dem Geschehen heraus, sind Sinnbilder des Krieges, der kein Krieg der Männer mehr war, sondern die Entfesselung der Hölle gegen wehrlose Frauen und Kinder.
Am 30. Januar 1945, einem wahrhaft symbolischen Tag, dem „Tag der Machtergreifung“, mit dem das Hitlerreich seinen Anfang nahm, sank 12 Seemeilen querab Stolpmünde das Propagandaschiff der „Kraft-durch-Freude“-Flotte „Wilhelm Gustloff“. 6600 Menschen, darunter 5500 Flüchtlinge befanden sich auf diesem zum „Flüchtlingsschiff“ umfunktionierten Kdf-Urlauberschiff, glaubten fest daran, am nächsten Tag den Zielhafen Kiel zu erreichen.
Doch die „Gustloff“ kam nie dort an. Schon wenige Stunden nach dem Auslaufen aus Gotenhafen trafen um 21:16 Uhr drei Torpedos das Schiff und schickten es auf den Grund der Ostsee. 62 Minuten dauerte der Todeskampf der „Gustloff“ und derer, die darauf waren. Bei 18 Grad unter Null überlebten nur 1252 die vom Wintersturm gepeitschte Katastrophennacht – darunter auch ich; 5028 Menschen fanden den Tod in den eisigen Fluten.
Obwohl die Nachricht vom Untergang der „Gustloff“ sich in Windeseile in den Ostseehäfen herumsprach, strömten Zehntausende Flüchtlinge weiter auf die Schiffe. Es gab keinen anderen Fluchtweg. Sowar das auch in den ersten Februartagen in Pillau. Mit 4267 Menschen an Bord, darunter 1600 Schwerverwundete, verließ der Dampfer „General Steuben“ am 9. Februar 1945 Pillau. 53 Minuten nach Mitternacht gab der Kommandant des sowjetischen U-Bootes „S 13“, Alexander Marinesco, der zehn Tage zuvor die „Gustloff“ versenkt hatte, das Kommando „Feuer“. Eine Minute später trafen zwei Torpedos die „Steuben“. Tonnenweise stürzte die See in das todwunde Schiff, das sofort zu sinken begann und 3608 Menschen mit in den Tod nahm.
Der Untergang der „Gustloff“ und des „General Steuben“ war noch nicht das Ende des Flüchtlingsdramas. Am Morgen des 16. April lag auf der Reede von Hela der nur 5230 BRT große Frachter „Goya“. Auf vier Reisen hatte dieses „Flüchtlingsschiff“ bereits 19 785 Menschen über die Ostsee gerettet. Jetzt sollte die fünfte Reise beginnen. Am Kai auf Hela standen rund einhunderttausend Menschen. Mit kleineren Schiffen und Booten wurden sie zur „Goya“ befördert. Viele warteten seit Stunden, manche schon die ganze Nacht.
Aus dem verhangenen Himmel stürzten sich urplötzlich sowjetische Bomber auf die Menschen, warfen ihre todbringende Last ab. Kinder, Mütter, Greise, Verwundete starben. Übrig blieb ein Bild des Grauens. Danach Panik, Chaos, Boote und Kutter, Schiffe und Schiffchen wurden buchstäblich gestürmt. Alle wollten auf die in Sichtweite liegende „Goya“. Der Kampf dauerte Stunde um Stunde. Um 18 Uhr wurde dem Kapitän gemeldet: „Das Schiff ist total überfüllt, an Bord befinden sich mehr als 7200 Menschen!“ Kurze Zeit später nahm das Schiff Fahrt auf und ging auf Todeskurs. Fünf Minuten vor Mitternacht zerrissen zwei russische Torpedos die Schiffswände. Die „Goya“ sank in sieben Minuten. Nur 172 von 7200 überlebten.
Fast 16 000 Menschen fanden bei diesen drei Katastrophen in der Ostsee den Tod: Frauen, Kinder, Greise und Verwundete. In 40 bis 70 Meter Tiefe liegen die Schiffswracks der „Gustloff“, der „Steuben“ und der „Goya“, der Plünderung freigegeben. Denn trotz aller Bemühungen sind diese Wracks bis heute nicht als offizielle Kriegsgräber anerkannt. In zunehmendem Maße werden diese Massengräber der Ostseeflucht von Schatzsuchern und Sporttauchern heimgesucht und die Toten in ihrer Ruhe gestört. Es ist an der Zeit, daß Mittel und Wege gefunden werden, dies zu verhindern.
Hein Schön leitet das Zeitgeschichtliche Archiv über den Krieg in der Ostsee in Bad Salzuflen.
Bildunterschrift: Je näher die Front rückte, desto größer wurde der Flüchtingsstrom von Osten nach Westen. 16 000 Menschen, die in den letzten Kriegstagen nach ihrer Einschiffung, wie hier in Riga, auf ein heiles Fortkommen hofften, fanden den Tod in der Ostsee. In weit höherem Maße als in früheren Kriegen wurde im Zweiten Weltkrieg die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen. In dieser Woche zwischen Volkstrauertag und Totensonntag ist auch daran zu erinnern.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 20.11.1992
Weiterführende Quelle: Der letzte Wunsch des Heinz Schön
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