War die Geschichtsschreibung bisher der Meinung, der“Große Vaterländische Krieg“ sei die Antwort Stalins auf den Überfall Hitlerdeutschlands gewesen, vertritt Prof. Werner Maser nach Einsicht in bisher nicht zugängliche Dokumente in Moskauer Archiven eine andere These. Die Mitteldeutsche Zeitung sprach mit dem renommierten Historiker aus Speyer, der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über das NS-Regime und en Zweiten Weltkrieg lehrt, über seine Ansichten.
MZ: Anläßlich des 54. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges steht die Frage nach Einzelheiten und Zusammenhängen, die bislang unbekannt waren. Nicht nur uns in der ehemaligen DDR irritiert geradezu ihre Feststellung, daß Stalin der eigentlich Schuldige am Zweiten Weltkrieg gewesen ist. Welche neuen Quellen gibt es?
MASER: Bis vor kurzer Zeit für die historische Forschung unzugängliche Moskauer Archive und zuverlässige, durch Primärquellen belegbare Darstellungen einstiger maßgeblicher sowjetischer Militärs, die an strikte Geheimhaltungsvorgaben gebunden waren, machen es möglich, plausibel nachzuvollziehen, was wirklich gewesen ist.
MZ: Aus welchen Dokumenten kann gefolgert werden, daß die Rote Armee Deutschland zuvorkommen wollte?
MASER: In einem von den sowjetischen Militärs Timoschenko und Schukow im Mai 1941 Stalin persönlich zugeleiteten und nur in einem Exemplar ausgefertigten Gutachten heißt es: „… erachte ich es für notwendig, dem deutschen Kommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer dann anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet, noch keine Front aufbauen und das Gefecht der verbundenen Waffen noch nicht organisieren kann.“
MZ: Bisher galt, daß Hitler die auf den Krieg nicht vorbereitete friedliebende Sowjetunion am 22. Juni 1941 überfallen habe, nachdem er am 1. September 1939 – gegen Stalins Intentionen – in Polen einmarschiert war und die Sowjetunion veranlaßt hatte, die polnischen „Schwestern und Brüder“ im Ostteil Polens am 17. September 1939 durch eine Einmarsch der Roten Armee in „Schutz“ zu nehmen.
MASER: Das ist ein klassisches Beispiel für marxistisch-leninistische Geschichtsfälschungen. Nachweisbar ist, daß Stalin den Krieg unbedingt wollte. So erklärte er beispielsweise am 19. August 1939 in einer Geheimsitzung des Politbüros, vier Tage vor der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes in Moskau: „Wenn die Sowjets einen Allianzvertrag mit Frankreich und Großbritannien abschließen, so wird Deutschland sich gezwungen sehen, vor Polenden Rückzug anzutreten und mit den Westmächten einen modus vivendi zu suchen. Auf diese Weise könnte der Krieg vermieden (werden), und die spätere Entwicklung der Sachlage würde einen gefährlichen Charakter für uns haben. Wenn wir andererseits den Vorschlag Deutschlands annehmen, so wird es sicher zum Kriege mit Polen kommen, und die Interventionen Englands und Frankreichs wird unvermeidbar sein. Wir werden dann große Chancen haben … und wir können mit Vorteil unseren Zeitpunkt erwarten.“
Im Juni und im Juli 1940 erhielten die sowjetischen Botschafter in Japan und China vom Moskauer Volkskommissariat für Auswärtiges Depeschen, aus denen hervorging, daß Stalin durch einen Pakt Japan zum Angriff gegen die Vereinigten Staaten bewegen und zugleich versuchen wollte, die „kapitalistischen“ Staaten Europas zum Krieg gegeneinander zu ermuntern. „Wir sollten allen Verträgen zustimmen, die einen Zusammenstoß zwischen Japan und den Vereinigten Staaten herbeiführen könnten“, hieß es in einem Telegramm aus Moskau an den sowjetischen Botschafter in Tokio, dem ferner mitgeteilt wurde: „Wir müssen Japan das Gefühl geben, in Norden sicher zu sein, und so seinen Willen stimulieren, nach Süden vorzudringen.“ Und am 12. Juli 1940 bekannte das sowjetische Außenministerium ihrem Botschafter unverblümt: „Der Abschluß unseres Vertrages mit Deutschland war diktiert von dem Bedürfnis nach Krieg in Europa.“
MZ: Also kein „Großer Vaterländischer (Verteidigungs-)Krieg“ der Sowjetunion?
MASER: Der von Hitler am 22. Juni 1941 ausgelöste Rußlandkrieg kann weder als provozierter Überfall auf die Sowjetunion noch als sowjetischer Großer Vaterländischer Krieg im Sinne eines Verteidigungskrieges zutreffend definiert werden. Beide Seiten hatten ihren jeweiligen Entschluß, den Vertragspartner von August und September 1939 unmittelbar militärisch anzugreifen. Im Frühsommer 1941 waren beide Armeen auf eine Offensive vorbereitet. Stalin, der im August 1939 in der Lage gewesen wäre, Hitler vom Krieg gegen Polen abzuhalten, tat dies bewußt nicht, weil er hoffte, daß die Westmächte in Hitlers Krieg gegen Polen eingreifen und Deutschland und die Westmächte so in einem langen Abnutzungskrieg hineingezogen werden würden, dessen Ausgang die Sowjetunion schließlich entscheiden könnte.
MZ: Von der DDR-Geschichtsschreibung wurde ein gänzlich anderes Bild multipliziert.
MASER: Da verbreitete beispielsweise Jürgen Kuczynski 1953 in seinem Pamphlet „Die Geschichte unseres Vaterlandes von 1900 bis zur Gegenwart“ eine märchenhaft anmutende Legende, die bis 1990 stereotyp wiederholt worden ist. Ich zitiere einen Passus: „Die Sowjetunion, die den Frieden sichern wollte, erklärte natürlich: ‚Obwohl wir kein Bündnismit Polen haben, werden wir Polen genau wie jedem anderen Landgegen einen Überfall helfen. Wir sind dafür, daß alle Länder sich zum Schutze Polens gegen Hitler zusammentun.‘ Die polnischen Monopolisten und Junker aber wollten keine Hilfe von der Sowjetunion. Siehatten Angst, daß die Arbeiter und die Bauern und die fortschrittliche Intelligenz von den Sowjetsoldaten erfahren würden, wie gut es in ihrem sowjetischen Vaterland ohne Monopolkapitalisten und Junker geht, und daß die polnischen Werktätigen dann die polnischen Monopolkapitalisten und Junker verjagen würden.“
Der sowjetische Militär Deborin vervollständigte das Märchen 1960 mit folgender idyllischen Feststellung: Am 17. September 1939 trat die „Regierung der UdSSR zu einem Befreiungsmarsch in die Westukraine und nach Westbelorußland an. Die Bevölkerung bereitet der Sowjetarmee einen begeisterten Empfang. Damit war den faschistischen Truppen der Weg nach Osten verlegt, sie mußten haltmachen“.
MZ: Hätte Hitler denn seinerseits auf den Krieg gegen die Sowjetunion verzichtet, wenn Stalin nicht an einem Krieg in Europa interessiert gewesen wäre?
MASER: Den Krieg gegen die Sowjetunion als Land-Raubkrieg und Grundlage zur gewaltsamen „Germanisierung“ des Ostens hat Hitler seit 1924 unentwegt propagiert und zu einer Grundlage nationalsozialistischer Weltanschauung erhoben. Er hat nur auf die für ich günstige Situation gewartet und gehofft, daß sie – nach den deutschen Erfolgen von 1939 bis 1941 im Westen – 1942/43 kommen werde. Doch die Maßnahmen der sowjetischen Führung und der Roten Armee veranlaßten ihn, Stalin zuvorzukommen und die Sowjetunion im Juni 1941 anzugreifen, nachdem der von ihm ursprünglich vorgesehen Termin, Mitte Mai 1941,infolge des im März gescheiterten Mussolini-Feldzuges gegen Griechenland verschoben werden mußte.
MZ: Was waren das konkret für Maßnahmen?
MASER: Es waren, um hier nur die Aktivitäten der Roten Armee von Januar bis Juni 1941 anzuführen, unter anderem zwei Großübungen und Stabsmanöver im Januar. Mit 92 Infanterie-Divisionen, 12 000 Panzern, 9000 Flugzeugen und 17000 Geschützen, wurde im ersten dieser Manöver die Eroberung Königsbergs simuliert. An der zweiten Großübung gleichen Stils nahmen 181 Infanterie-Divisionen, zehn Kavallerie-Divisionen, 15 Panzer-Divisionen, sieben mechanisierte Divisionen mit 29 000 Geschützen und mehr als 12000 Panzern teil. Im Mai wurden 793 000 Reservisten zu „Übungen“ einberufen und vier Armeen aus den inneren Bezirken der Sowjetunion bis zu 20 Kilometer an die deutsch-russische Grenze herangeführt. Seit dem 13.Juni rollten in fünf Heeresgruppen weitere 170 Divisionen, 46 motorisierte Verbände und 10 000 Panzer als erste Angriffsstaffel an die sowjetische Westgrenze,70 weitere Divisionen und 8000 Panzer rückten als zweite Staffel nach, so daß in der ersten Juni-Hälfte 240 Divisionen, 29 motorisierte Korps, 20 000 Panzer und 10 000 Kampfflugzeuge zum Angriff hätten antreten können.
MZ: Das deutsche Unternehmen gegen die Sowjetunion hatte den Decknamen „Barbarossa“. Ist bekannt unter welchem Decknamen die sowjetische Aktion firmierte? Und wie stark war das gesamte deutsche Truppenkontingent im Juni 1941 im Osten?
MASER: Das sowjetische Unternehmen lief unter dem unmißverständlichen Decknamen „Operation Gewitter“. Die deutsche Truppenstärke betrug im Juni 1941 nach den Angaben im „Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht“ 152 Divisionen, 75 Prozent des gesamten deutschen Feldheeres, 3333 Panzer und 2000 Flugzeuge.
MZ: Und dann diese sensationellen Erfolge? Wie war da möglich angesichts des gravierenden Kräfteunterschiedes?
MASER: Die sowjetischen Truppen waren im Juni 1941 strategisch falsch aufgebaut. Die erste strategische Staffel bestand vor allem aus Angriffsgruppierungen, die sich beim deutschen Angriff sofort verteidigen mußten, worauf sie nicht vorbereitet waren. Faktisch ging die Rote Armee, die in ihren Angriffsvorbereitungen von der deutschen Offensive überrascht und überrannt wurde, erst vom 27. bis 30. Juni zur strategischen Verteidigung über. Treibstoff für Flugzeuge, Panzer und andere Motorfahrzeuge waren in großen Mengen offen gelagert, ebenso die Munition für Geschütze, Kanonen, Granatwerfer, Maschinengewehre und so weiter. Panzerbataillone befanden sich mit ihren Panzern auf Eisenbahnzügen für den Transport nach Westen. Die Truppen warne, anders als bei Verteidigungsabsichten, nicht eingegraben. Luftwaffeneinheiten mit Flugzeugen, die nicht – wie im Verteidigungsfall üblich – im Hintergrund formationsweise gestaffelt waren, parkten Tragfläche an Tragfläche in der Nähe der Grenzen und konnten buchstäblich im Handstreich vernichtet werden. Zudem warn die ursprünglich für die Verteidigung vorgesehenen sowjetischen Feldbefestigungen hinter der ehemaligen polnisch-sowjetischen Grenze abgebaut, Minenfelder gesprengt und Tausende Kilometer Stacheldrahtverhaue beseitigt worden, um die geplante Offensive nicht zu behindern.
MZ: Hitler ließ die Wehrmacht am 22. Juni 1941 zur Offensive antreten. Wann hätte der sowjetische Angriff planmäßig beginnen sollen?
MASER: Diese Frage kann bislang noch nicht zuverlässig beantwortet werden. Es existieren Unterlagen, die sowohl den 6. Juli 1941 als auch den 10. Juli 1941 als Angriffsdatum erscheinen lassen. Wahrscheinlich ist jedoch, daß von Stalin ein späterer Termin vorgesehen war.
Bildunterschrift: Nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages 1939 über die Aufteilung der Interessensphären: Molotow und Stalin (von links) und Außenminister Ribbentrop. Ende 1939 ergab sich nebenstehend fixiertes Bild für Polen. Die von Pilsudski 1920/21 annektierten sowjetischen Gebiete wurden wieder sowjetisch. Aus: Kampf um Europa, Stocker Verlag
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 27.08.1993
Weiterführende Quelle: Chronologie des Zweiten Weltkrieges bei GEO
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