Für viele Soldaten der ehemaligen Westgruppe ist der Marschbefehl zurück in die Heimat wie ein Strafbefehl – Ehemalige Sieger bekommen keine Wohnung
Couchtisch, dunkelbraune Ledergarnitur, Hifi-Turm mit Videorekorder der gehobenen Mittelklasse. In der Anrichte, die unschwer als DDR-Produkt zu erkennen ist, steht ein buntgemustertes Kaffeeservice, bei den Gläsern dominiert Kristall. Irgendwie sieht es in dem bis auf den letzten Zentimeter vollgestellten kleinen Wohnzimmer bei den Poterajs ziemlich deutsch aus, geradezu spießbürgerlich: Fast zehn Jahre fern der Heimat hinterlassen Spuren. In der Diele stoßen wir auf ein Foto vom Wittstocker Gröpertor – in der brandenburgischen Garnisonsstadt war Tolja Poteraj, 40jähriger Flugzeugtechniker, seit 1988 stationiert. Über dem Sofa hängt ein Wandteppich als Wärmeschutz – überall in ostdeutschen Kasernen ging das Gerücht um, die aus dem Boden gestampften Unterkünfte für die Heimkehrer seien zugig.
Das Landstädtchen Siverskij, 70 Kilometer südlich von St. Petersburg, muß 300 Rückkehrer aufnehmen. Tolja Poterajs Tätigkeit in der Armee hatte stets mit Fliegen zu tun, und so gesehen liegt in dem so planlos erscheinenden Wechsel von der Prignitz zum 67. Jagdbomber-Geschwader vor den Toren der zweitgrößten Stadt Rußlands sogar eine gewisse Logik. Die Poterajs wohnen Tür-an-Tür mit Staffel-Kommandeur Wladimir Tschegrydin und Ehefrau Marina. Als Verlierer des kampflos beendeten Kalten Krieges betrachten sie sich irgendwie beide – trotz der schönen neuen Wohnung. Wenn man bislang gut tausend Mark verdient hat, kommt der Marschbefehl nach Rußland einem Strafbefehl gleich. Auf die meisten Heimkehrer wartet der soziale Abstieg. So reden die jungen Offiziere freilich nur, wenn kein Vorgesetzter mithört, denn diese Sicht der Dinge entspricht nicht der offiziellen Linie „Unsere Leute kehren doch nur in die Heimat zurück“, wiegelt Regimentskommandeur Wiktor Abramenkow (38) ab. Aber auch er bestreitet nicht, daß die Integration Probleme bereitet.
250 Namen stehen in Siverskij auf der Warteliste. Dutzende von Anwärtern harren seit Monaten in einem schmuddeligen früheren Pionierlager auf engstem Raum aus. Anderswo müssen die heimkehrenden Soldaten in Eisenbahnwaggons oder in Zelten hausen. Viele Offiziere haben Frauen und Kinder allein vorausgeschickt und sind irgendwo bei Verwandten notdürftig untergebracht. Immer wieder hört man, daß die Unterkünfte angesichts der katastrophalen Wohn-Versorgung unter der Hans längst an örtliche Militärs oder Funktionäre vergeben seien, wenn die Männer der Westgruppe und ihre Familien einziehen wollen. Nicht so in Siverskij, betonen die Verantwortlichen. Hier erfolgte alles streng nach Befehl des Verteidigungsministeriums. Wer eine Wohnung ergattert, hat aber noch keinen Platz in der Schule oder in der Kinderkrippe. Und die Poterajs müssen sich wieder ans Anstehen nach Brot und Käse gewöhnen. Wen wundert es, daß da Heimweh aufkommt. Heimweh nach Deutschland.
Nach Fertigstellung des Bauprogramms werden in Siverskija 264 Offiziers-Familien – der normale Soldat hat keine Chance – eine neue Unterkunft gefunden haben. Bislang sind zwölf Häuser bezogen, die restlichen 17 sollen bis zum Frühjahr folgen. Vor Ort werden per Bahn aus dem fernen brandenburgischen Pinnow herangeschaffte Module zusammengesetzt und montiert. Hergestellt werden die Teile von der auf Abrüstung und Entsorgung umgestiegenen westdeutschen Wehrtechnik-Firma Buck, die große Teile einer ehemals streng geheimen DDR-Rüstungsschmiede in der Uckermark übernommen hat. Doch nicht nur der frühe Wintereinbruch war schuld daran, daß der Zeitplan nicht eingehalten werden konnte. Die russische Seite kommt mit Kanalisation, Wasser- und Stromversorgung sowie der Heizung nicht nach, es fehlt an geschulten Fachkräften, und die aus Moskau zugesagten Gelder fließen nur spärlich. Die zweistöckigen Fertighausteile mit ihren roten Ziegeldächern sehen auch in trüben Wintertagen inmitten einer unwirtlichen Umgebung aus Dreck und Schlamm freundlich aus. Zwischen 50 und 86 Quadratmeter groß sind die Wohnungen, alles wirkt bescheiden, aber grundsolide und – gemäß dem ausdrücklichen Wunsch der russischen Auftraggeber – ganz und gar militärisch.
An dem 8,3-Milliarden-Programm, mit dem Bonn den Soldaten- Wohnungsbau in Rußland mitfinanzieret, ist Buck nicht beteiligt. Den Kuchen haben im wesentlichen die westdeutschen Bauriesen Holzmann, Hochtief, Mannesmann und Züblin unter sich aufgeteilt. Ehemalige DDR-Betriebe mit traditionell guten Kontakten in die frühere Sowjetunion fungieren meist nur als Sub-Unternehmer. Im Bundesbauministerium heißt es, die Russen hätten „endlich weg von der Platte “gewollt. Öffentlich kontrolliert wird das infolge Sparsamkeit von 36 000 auf 44 000 Wohnungen aufgestockte Bauprogramm von der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Von ihnen sind nach Auskunft des Bonner Wirtschaftsministeriums bislang allerdings erst zwischen 10 000 und 20 000 Einheiten fertiggestellt, eigentlich sollte bis Ende ‚93 die Hälfte stehen. Mit dem Geld aus Bonn kann nach Auffassung von Experten nur etwa die Hälfte der benötigten Wohnungen gebaut werden. Einfallsreiche russische Militärs in der Ex-DDR hoben daraufhin den „Konzern Konversion und Wohnung“ unter Leitung eines Ex-Generals aus der Taufe, der an drei russischen Standorten mit insgesamt 79 Häusern Partner ist. Abgesichert wird das Projekt durch Hermes-Bürgschaften.
Immer wieder schlagen unvorhergesehene Ereignisse den Bauleuten Schnippchen. Kürzlich ist auf der Baustelle Siverskij nachts ein Bagger angezündet worden und ausgebrannt. „Die örtliche Mafia“, sagt ein Projekt-Koordinator. Alles hätte sich der frühere ABC-Abwehroffizier der NVA und Absolvent der Moskauer Militärakademie träumen lassen. Nur nicht, daß er seine exzellenten Russisch-Kenntnisse einmal dazu verwenden würde, eine der größten friedlichen Truppenbewegungen der Geschichte mitzuorganiseren: die Heimkehr der Sieger
Bildunterschrift: Rückkehr mit vielen Fragezeichen: Russische Soldaten kommen mit Sack und Pack in Moskau an. Viele von ihnen werden in Baracken oder Zelten untergebracht, da Wohnungen nicht ausreichend zur Verfügung stehen.
Karte: Die Russische Föderation zählt mit einer Fläche von 17 Millionen Quadratkilometern (Weltrang 1) und einer Einwohnerzahl von fast 150 Millionen (Weltrang 5) zu den größten Staaten der Welt. Bis zum Ende des Kalten Krieges hatte die UdSSR nach eigenen Angaben rund 630 000 Soldaten im Ausland stationiert, davon etwa 340 000 in der ehemaligen DDR. Entsprechend des Abzugsvertrages sind allein aus Deutschland bis Ende 1993 fast 300 000 Militärangehörige, zu denen noch einmal die gleiche Zahl Familienangehörige und Zivilbeschäftigte kommen, zurückgekehrt.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 17.01.1944
Weiterführende Quelle: „Die russische Armee zieht ab – was bleibt?“
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