Am 17. Juni 1941 erteilte Hitler den endgültigen Befehl für den Feldzug gegen die Sowjetunion. Am 22. Juni um drei Uhr fielen drei Millionen Soldaten in das Land ein.
War Hitlers Überfall auf Sowjetrußland ein Präventivschlag, um einem Angriff Stalins zuvorzukommen? In einem erbittert geführten Krieg der Argumente, dessen Frontstellungen selbst für Fachleute kaum noch überschaubar sind, wird darum gestritten. Für Laien ist schwer nachvollziehbar, was diese Frage heute noch zum politisch wichtigen Thema macht.
Die Präventivschlagsthese wurde von Hitler in die Welt gesetzt, als er vor dem Überfall sagte, Stalin habe abwarten wollen, bis der Westen sich ausgeblutet habe, um dann Europa zu bolschewisieren. Tatsächlich galt seit Lenin, daß es zum Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern kommen werde, auf den die Revolution folgte.
Macht ausweiten
Manche Historiker meine, Stalin sei nach Hitlers Erfolgen von 1940 davon abgekommen. Jüngst von dem amerikanischen Historiker Raack im Historical Juournals veröffentlichte Aufzeichnungen Wilhelm Piecks zeigen jedoch, daß Stalin noch im Februar 1941 meinte, alles laufe hin auf die „Revolutionäre Beendigung durch Massen, je mehr Aussicht des Sieges schwindet … Revolution mit Unterstützung SU“,
Das stützt die Unzahl von Beweisen, daß Stalin den Krieg zur Machtausweitung nutzen wollte. Den Pakt mit Hitler 1939 schloß Stalin mit „dem Wunsch, einen Krieg in Europa auszulösen“, wie es in einem Telegramm an die Sowjetbotschaft in Japan hieß. Schon Anfang der dreißiger Jahre hatte er befohlen, die Rote Armee zur stärksten der Welt aufzubauen. Ihre Zusammensetzung, Ausrüstung und Ausbildung waren auf Angriff gerichtet. Seit 1939 galt eine Militärdoktrin, wonach die Sowjetarmee einen Krieg, auch bei einem Angriff auf die UdSSR, sofort auf das Territorium des Gegners zu tragen habe. In Reden vor Offizieren sagte Stalin 1941 mehrfach, daß man spätestens 1942 in den Krieg eintreten werde. Er wolle, falls es nicht zu dem erwarteten Angriff Hitlers kam, selbst angreifen: „Ob Deutschland will oder nicht, der Krieg mit Deutschland kommt“.
In einem kurz von seinem Tod gegebenen Interview sagte sein Außenminister Molotow, sie hätten versucht, den Krieg zu verschieben, da die Rote Armee noch nicht bereit war. Dennoch war Stalin keineswegs, wie oft behauptet, nach dem deutschen Angriff paralysiert. Er konferierte jeden Tag mit den Militärs. Der Zusammenbruch kam erst, als es trotz Doktrin nicht gelang, den Feind schnell zurückzuschlagen.
Vieles spricht dafür, daß Hitlers Truppen im Juni 1941 auf eine Armee trafen, die dabei war, sich auf einen Angriff vorzubereiten. Somit hatte der deutsche Überfall tatsächlich die Wirkung eines Präventivschlages. Neonazis und rechtskonservative Historiker möchten daraus ableiten, Hitler habe angreifen müssen; er sei in diesen Krieg hineingezogen worden, ihn treffe also keine Schuld. Sie versprechen sich davon eine politische Aufwertung Hitlers. Aus dem gleichen Grund streiten sie den Holocaust ab. Während sie damit die Wahrheit leugnen, handelt es sich bei der Präventivschlagsthese um eine unzutreffende Verdrehung der Tatsachen. Denn entscheidend für die historische Bewertung ist nicht die Wirkung, sondern die Motivation des Angriffs.
Die Beweislage dazu ist eindeutig: Hitler wollte seit den zwanziger Jahren den Krieg gegen Rußland. Sein Motiv war die Besessenheit von einem Rassenkrieg und der angeblichen Notwendigkeit, „Lebensraum“ zu gewinnen, während er die “bolschewistische Gefahr“ vor allem als Propagandawaffe bei jenen benutzte, die seine Rassenideologie nicht teilten. Seit der Machtübernahme 1933 war alles, „was ichunternehme… gegen Rußland gerichtet“. So wie diese langfristige Planung Hitlers unabhängig von irgendwelchen Absichten Stalins entstanden war, fiel auch die konkrete Entscheidung ohne Bezug zu Stalins offensiven Plänen.
Schon für 1940 geplant
Hitler wußte nichts darüber. Eigentlich hatte er erst 1943/45 im Osten losschlagen wollen. Im Juli 1940 aber erklärte er seinen Generälen, England werde erst kapitulieren, wenn es nicht auf Stalins Hilfe hoffen könne. Um England friedensbereit zu machen, zog er seinen Angriff auf Rußland vor, wollte ihn jetzt sogar schon im Herbst 1940 ausführen. Es mag zwar sein, daß Hitler, sei es aufgrund der im Frühjahr 1941 einlaufenden Meldungen über einen sowjetischen Truppenaufmarsch oder aufgrund persönlichen Instinkts, mit einem Angriff Stalins rechnete. Aber weder in Hitlers lange bestehenden Plänen noch beim konkreten Entschluß zum Angriff hat das eine Rolle gespielt.
Folgen bis ins Heute
Hitler hat den Krieg gegen Sowjetrußland unprovoziert aus eigenem Entschluß begonnen. Den politisch motivierten Umdeutungen der Geschichte aus neonazistischen Kreisen müssen Historiker und Publizisten entgegentreten. Dabei sollte man sich jedoch nicht auf ideologische Argumentation einlassen, die Stalin zum Unschuldslamm macht, um Hitler zu verdammen. Das ist nicht nur wider die historischen Tatsachen, es ist auch überflüssig, da die Verbrechen des einen Diktators nicht kleiner werden durch die Nennung der Verbrechen des anderen.
55 Jahre ist das alles her. Noch heute ist es schwer, die Auswirkungen dieses verdammten Krieges in all ihren materiellen und psychologischen Verästelungen zu erfassen. Die wichtigste Lehre: Kriegsächtung ist eine Lebensfrage der Menschheit.
Bildunterschrift: Ein russisches Dorf wird von deutschen Soldaten zerstört (rechts). Sofort nach Kriegsbeginn setzten die Exekutionen der jüdischen Bevölkerung durch die SS ein.
Ein sowjetische Güterzug wird zur Umladestelle rangiert (links). Noch einen Tag vor dem Überfall lieferte die Sowjetunion entsprechend des Abkommens von 1939 Getreide, Vieh, Kohle, Blei und Zink nach Deutschland.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 14.06.1996
Weiterführende Quelle: Unternehmen „Barbarossa“
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