Neue Forschungen belegen: In Hitlers Armee dienten mehr Nicht-Arier als bisher angenommen- Auch Generäle betroffen
Zehntausende Männer jüdischer Abstammung dienten während des Zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht, die meisten von ihnen mit Adolf Hitlers Erlaubnis. Diese Erkenntnis ist ein Ergebnis von Forschungen, die der junge Amerikaner Bryan Mark Rigg seit vier Jahren über das wenig bekannte und aus heutiger Sicht sensationell erscheinende Phänomen solcher Soldaten im judenfeindlichen und Juden mordenden Dritten Reich betreibt.
Zwar ist dieses Phänomen in zeitgeschichtlichen Darstellungen immer wieder erwähnt worden. Aber vom Umfang gab es bislang nur vage Vorstellungen, und nur wenige persönliche Schicksale waren bekannt. Jetzt hat der 25 Jahre alte Geschichtsstudent an der englischen Universität Cambridge in der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Zwischenbericht über seine Recherchen veröffentlicht.
Unter jenen Soldaten waren Hunderte von hochrangigen und vielfach ausgezeichneten Offizieren mit großer Kommandogewalt, sogar Generäle. Viele tausend waren nach NS-Definition „Halbjuden“, hatten also zwei jüdische Großeltern. Die Gründe dieser Männer, für Deutschland zu kämpfen, waren sehr unterschiedlich. Für solche, die gefälschte Papiere hatten, unter ihnen auch „Volljuden“, war die Wehrmacht ein Hort, an dem sie vor rassischer Verfolgung sicher waren – solange sie ihre Identität verbergen konnten.
Viele andere Soldaten dienten in Hitlers Streitkräften, ohne je an ihre jüdische Vergangenheit zu denken. Ihre Familiengeschichte war geprägt von Militärtradition und deutschem Patriotismus.
Den Forschungsanstoß hatte Riggs in einem Berliner Kino erhalten. Dort kam er nach der Vorstellung eines Films über das Schicksal eines Juden mit einem anderen Besucher ins Gespräch. Der erzählte ihm von seinem jüdischen Glauben, seiner Laufbahn als Offizier der Wehrmacht und seiner Familie, die in Konzentrationslagern umkam. Seitdem hat den jungen Mann aus Texas das Forscherfieber nicht mehr losgelassen. Er sammelte viele tausend Dokumente. Darunter sind rund 350 persönliche Schicksale, Lebensgeschichten zwischen Judenstern und Ritterkreuz.
Der Freiburger Zeitgeschichtler Ulrich Herbert verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß entgegen der öffentlichen Wahrnehmung viele wichtige Themen der NS-Zeit, vor allem aus den Kriegsjahren, noch nicht erforscht sind. Riggs Thema gehöre dazu. Der Militärhistoriker Wolfram Wette aus Freiburg zeigte sich überrascht über die von Rigg präsentierten Zahlen und Einzelheiten. Zu dem geschilderten ganz persönlichen Interesse Hitlers an Einzelfällen meinte Wette: „Das war bisher völlig unbekannt und ist schon eine Sensation.“ Rigg berichtet von 25 durch Hitler „arisierte“ Generäle. Auch den Freiburger Militärhistoriker Manfred Messerschmidt überraschte die Größenordnung des Phänomens. Was die zu erwartende Diskussion angeht, so glaubt er nicht, daß das präsentierte Material an der Bewertung der Judenpolitik der Nationalsozialisten etwas ändern wird.
Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin findet die genannten Zahlen nicht so überraschend, wenn man bedenkt, daß nach Angaben von 1942 damals in Deutschland etwa 28 000 Juden in sogenannten Mischehen lebten. Doch habe zu Beginn von Riggs Recherchen, als er an einem „Forschungskolloquium“ des Zentrums teilnahm, niemand gedacht, daß er so viele konkrete Fälle finden würde.
Kritisch äußerte sich Juliane Wetzel unter anderem zu Riggs Ansicht, Hitler habe sich offenbar eingestehen müssen, daß seine Rassenpolitik nur mit Ausnahmen durchzusetzen war und er deshalb tausende Menschen jüdischer Abstammung, darunter auch Beamte, „arisierte“ (wozu nach den sogenannten Nürnberger Gesetzen allein er die Macht hatte). Diese Deutung des Vorgangs hält die Historikerin für falsch: „Es hat hier keine klare Linie gegeben.“
Bildunterschrift: In der Wehrmacht, hier eine Infanteriedivision auf dem Marsch durch die Südukraine, diensten Zehntausende jüdischer Abstammung
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 08.04.1997
Weiterführende Quelle: „Hitlers jüdische Soldaten“ von Bryan M. Rigg
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