Zuwanderer prägten ganze Stadtviertel

Die Debatte über die in Deutschland lebenden Ausländer, Einwanderer, Zuwanderer ist nicht neu. Schon 1913 forderten die Sozialdemokraten im Reichstag einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung für die seit Jahren im Deutschen Reich beschäftigten ausländischen Arbeiter und ihre Familien: „Wenn man einem starken Prozentsatz von im Lande ansässigen Menschen nur halbe Staatsbürgerrechte einräumt, so muß das zu den allerungesundesten Zuständen führen.“

Doch die SPD setzte sich nicht durch. Das Reichs- und Staatsangehörigengesetz, dessen Beratung vor 80 Jahren, am 25. Juni 1913, abgeschlossen wurde, schrieb das sogenannte „Recht des Blutes“, das „ius sanguinis“, als Prinzip fest, das bis heute Gültigkeit hat: Selbst in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder und Kindeskinder von Ausländern gelten danach weiterhin als Ausländer ohne volle staatsbürgerliche Rechte.

Bereits im Kaiserreich beschäftigten deutsche Arbeitgeber Hunderttausende von sogenannten fremdvölkischen Arbeitern in ihren Betrieben, um den Mangel an Arbeitskräften in den Industriezentren auszugleichen. 1914 betrug die Zahl der in Deutschland arbeitenden Ausländer über 1,5 Millionen. Vor allem im Ruhrgebiet, aber auch in Hamburg prägten seit der Jahrhundertwende polnische Zuwanderer das Gesicht ganzer Stadtviertel.

Von der Bürokratie wurde diese Entwicklung mit Mißtrauen beobachtet. Neben allgemeiner Überfremdung fürchteten die deutschen Behörden vor allem, daß die im Ruhrgebiet und anderswo entstehenden polnische Vereine Agitation für die Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates betrieben könnten, der ja seit der Zerschlagung und Aufteilung Polens in den Jahren 1795/1815 nicht mehr existierte.

Der Rechtsstatus der in Deutschland arbeitenden „Fremdvölkischen“ hing davon ab, ob sie tatsächlich ausländische Pässe hatten, also beispielsweise aus den zu Rußland oder Österreich gehörenden polnischen Gebieten, aus Italien, Holland oder der Ukraine stammten, oder aber sogenannte Inlands-Polen und somit Staatsbürger des Deutschen Reiches waren. Da die polnischen Zuwanderer im Ruhrgebiet meist aus Ostpreußen oder Schlesien kamen, sie also juristische keine Ausländer waren, konnten ihre Rechte von den deutschen Behörden nicht völlig willkürliche eingeschränkt werden. Trotzdem wurden die sogenannten Ruhrpolenvielfach diskriminiert, ihre Vereine, Presse und Versammlungen von den Polizeibehörden genauestens beobachtet und überwacht.

Das Reichsvereinsgesetzt von 1908 verbot den Rohrpolen den Gebrauch der polnischen Sprache bei öffentlichen Veranstaltungen. Polnische Schulen oder muttersprachliche Schulklassen waren nicht erlaubt, und selbst Versuche, privat polnischen Unterricht in Lesen und Schreiben zu erteilen, wurden polizeilich verfolgt und wenn möglich vereitelt. Ebenso verweigerten die Behörden im Ruhrgebiet den Kirchengemeinden die Erlaubnis, polnische Priester einzustellen. Das angestrebte Ziel dieser restriktiven Politik, eine schnelle Integration und „Germanisierung“ zu erzwingen, wurde jedoch nicht erreicht.

Die Erfahrung alltäglicher Benachteiligung und Ausgrenzung stärkte vielmehr die Solidarität unter den polnischen Zuwanderern und trieb sie vielfach gerade zur Entdeckung ihrer eigenen nationalen Identität. Viele Ruhrpolen suchten die Sicherheit und Anerkennung, die ihnen von Deutschen oft verwehrt wurde, in der vertrauten sozialen Umgebung und gründeten eigene Organisationen. 1912 bestanden im Ruhrgebiet 875 polnische Vereine mit über 80 000 Mitgliedern.

Auch die deutsche Arbeiterbewegung tat sich anfangs schwer mit den fremden Arbeitern. Während sich die Sprachbarrieren nach und nach überwinden ließen, war die Ansicht weit verbreitet, daß die Arbeitgeber durch den gezielten Einsatz von Polen versuchten, das Lohnniveau zu drücken und die deutschen Gewerkschaften zu schwächen. Da zudem die Mehrzahl der rund 500 000 Ruhrpolen katholischen Glaubens war und mit der antikirchlichen Haltung der deutschen Arbeiterbewegung wenig anfangen konnten, entstanden bald eigene polnische Gewerkschaftsverbände. Trotz programmatischer Unterschiede arbeiteten bei Streiks polnische und deutsche Gewerkschaften jedoch durchaus zusammen.

Als nach dem Ende des Ersten Weltkrieges das Deutsche Reich Gebiete im Osten an den neuentstehenden polnischen Staat abtreten mußte, bekam insbesondere die polnische Minderheit im Ruhrgebiet die polenfeindliche Stimmung in der deutschen Bevölkerung deutlich zu spüren. Der Anpassungsdruck auf die Ruhrpolen, die vielfach schon vor Jahrzehnten ihre Heimat verlassen hatten und mittlerweile in der zweiten und dritten Generation an der Ruhr lebten, wurde besonders stark. Etwa ein Drittel entschied sich daher, in den neugegründeten polnischen Staat überzusiedeln. Die meisten aber blieben im Ruhrgebiet oder wanderten in andere Regionen ab, zum Teil auch nach Frankreich.

Vor allem die Kinder der Zuwanderer fühlten sich emotional viel weniger an die alte Heimat gebunden als noch ihre Eltern. Viele Familien hatten sich trotz aller Schwierigkeiten mit dem Leben zwischen zwei Kulturen bereits so stark im Ruhrgebiet integriert, daß es für sie zur eigentlichen Heimat geworden war. Manche deutschen in den zwanziger und dreißiger Jahren ihre Namen ein. Die meisten behielten jedoch ihre polnischen Nachnamen bei. Noch heute weisen Telefonbücher mit den unzähligen Kowalskis und Jakubowskis rund um Duisburg, Gelsenkirchen und Bochum auf die multikulturelle Tradition des Ruhrgebietes hin.

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 09.07.1993

Foto in Originalgröße

Weiterführende Quelle:  das Abstammungsprinzip bei Wikipedia

zurück zu Krieg & Flucht