Als ich im Jahre 1946 von den Russen aus der Gefangenschaft entlassen wurde, weil ich „OK“ war (das heißt nicht okay, sondern „ohne Kraft“), weil ich durch schlechte Ernährung, schwere Arbeit und Krankheiten die letzten Kräfte verloren hatte und deshalb nicht mehr arbeiten konnte, kam ich ungewollt in die sowjetische Besatzungszone, also zu meinen deutschen Brüdern und Schwestern. Da ich meine Heimat und all mein Hab und Gut verloren hatte, völlig mittellos, ohne Familie und Freunde, unter fremden Menschen war, mußte ich mir, anstatt mich zu erholen, eine Arbeit suchen. Siehe da, meine deutschen Brüder erklärten mich für arbeitsfähig, und sie wiesen mir einen Arbeitsplatz für Schwerarbeiter im Dreischichtbetrieb zu. Ich mußte den weiten Weg zur Arbeit zu Fuß gehen, denn ich besaß weder Fahrrad noch Auto. Müde und hungrig begann ich meine Arbeit im Leistungslohn. Das heißt: Mein Lohn richtete sich nach der Menge meiner geschaffenen Produkte. Außerdem durfte ich jede Woche 48 Stunden arbeiten, oft sogar 60 Stunden. Die Wochenend-Ruhepause betrug nur wenige Stunden.
Damals hätte ich mir eine solche Beschäftigung gewünscht, wie ich sie heute manchmal beobachten kann beim Bauwesen, Handwerk und in der Produktion, von den Angestellten der Verwaltung will ich gar nicht reden. Solche Arbeit hätte ich mir damals gewünscht, bei der man nicht schwitzt und hungert, bei festem Lohn und zwei Tagen Wochenenderholung. Beim Beobachten der heutigen Arbeitsweise drängt sich mir der Gedanke auf: Hätte ich damals so gearbeitet, hätte ich nichts verdient und wäre verhungert.
Horst Lehmann, Bitterfeld
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 24.11.1993
Weitere Quelle: Definition Leistungslohn
zurück zu Krieg & Flucht
Neueste Kommentare