Vor 50 Jahre wurde die Blockade der Wehrmacht gesprengt

Mit Tränen in den Augen beobachtete Rußlands Präsident Boris Jelzin die Kranzniederlegung auf dem St. Petersburger Gedenkfriedhof Pisarewskoje. Viele der Hunderttausende, nach anderen Schätzungen Millionen Opfer, die die 900tägige Blockade der deutschen Wehrmacht gegen das damalige Leningrad gekostet hatte, sind hier begraben. Vor 50 Jahren durchbrach die Sowjetarmee die Belagerung der Stadt, die sich seit 1991 wieder St. Petersburg nennt. Ein „Feiertag mit Tränen“, formulierte Jelzin, der im Beisein zahlreicher Politiker aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, ausländischer Delegationen und dem St. Petersburger Bürgermeister, Anatoli Sobtschak, gestern dieses Ereignisses gedachte. „Keine andere Stadt hat wie Leningrad gelitten. Ruhm den Veteranen und ewiges Gedenken denen, die umkamen“, sagte der Präsident tief ergriffen.

Jelzin besuchte auch das Dorf Marjino, 40 Kilometer nördlich St. Petersburg, wovor 50 Jahren in den Kämpfen um einen Brückenkopf an der Newa in einer Woche 150 000 sowjetische Soldaten fielen. Er sprach dort mit Veteranen und kündigte an, daß für den Befreier Leningrads und Eroberer Berlins, Marschall Georgi Schukow, auf dem Roten Platz in Moskau ein Reiterdenkmal errichtet werden soll. Außerdem will Jelzin nach Mitteln suchen, um rund um St. Petersburg „einen Gedenkring des Ruhmes“ zu schaffen. „Das ist notwendig, damit die künftigen Generationen von den Ruhmestaten ihrer Vorfahren wissen“, sagte der Präsident.

In russischen Zeitungen wurde anläßlich der Gedenkveranstaltungen, für die der russische Staat fünf Millionen Rubel ausgab, Kritik an der Verarmung vieler Veteranen der deutschen Hungerblockade geübt. „Veteranen der Schlacht um Leningrad und Leningrader, die die Belagerung überlebten, sehen zu unserer großen Schande nicht wie mit Lorbeeren geschmückte Sieger aus“, schrieb die Armeezeitung „Krasnaja Swesda“. Die rund 400 000 noch verbliebenen Überlebenden der Belagerung erhielten anläßlich des Gedenktages eine staatliche Sonderzahlung von 10 000 bis 15 000 Rubel (etwa zwölf bis 17 Mark).

Die Blockade von Leningrad war eine der größten und folgenreichsten militärischen Operationen im Zweiten Weltkrieg. Der Durchhaltewillen der Bevölkerung, die unter schier unvorstellbaren Bedingungen fast drei Jahre lang den Belagerern trotzte, begründete den bis heute in Rußland gepflegten Mythos der „Heldenstadt“ an der Newa. 642 000 Menschen starben zum Teil auf offener Straße an den Folgen von Hunger, Krankheit und Erschöpfung, 20 000 durch Bombardements. Etwa eine Million Menschen war 1942 evakuiert worden. Die Gesamtzahl der militärischen und zivilen Verluste wird in einigen Quellen auf bis zu 1,5 Millionen Menschen beziffert.

Bereits in den ersten Monaten des deutschen Rußlandfeldzuges, der im Juni 1941 begonnen hatte, geriet Leningrad in die Umklammerung durch die deutsche Heeresgruppe Nord. Die Belagerung begann am 9. September 1941 mit dem Fall der Festung Schlüsselburg. Von diesem Zeitpunkt an konnte die Stadt mit zu Kriegsbeginn 2,5 Millionen Einwohnern nur noch über den im Winter zugefrorenen Ladogasee versorgt werden. Bald ging der Brennstoff aus, die Essensrationen wurden immer kleiner. Die „Prawda“ schrieb zum 20. Jahrestag der Befreiung, daß die Welt eine „ähnliche Massenvernichtung der Zivilbevölkerung, so furchtbare menschliche Leiden und Entbehrungen“ vorher noch nicht erlebt habe.

Aber es gab in der Hölle des Kessels von Leningrad auch so etwas wie ein normales Leben. Der Komponist Dmitri Schostakowitsch schuf dort 1941 seine Siebte Sinfonie, die in der Leningrader Philharmonie uraufgeführt wurde. „Unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem nahen Sieg über den Feind, meiner Heimatstadt Leningrad weihe ich meine siebte Sinfonie“, schrieb Schostakowitsch. Doch der erhoffte Sieg sollte bis zum Januar 1943 auf sich warten lassen, als der Belagerungsring von der Roten Armee erstmals durchbrochen wurde. Die endgültige Befreiung der Stadt am 27. Januar 1944 erlebten dann nur noch 800 000 Leningrader in ihrer entvölkerten, geschundenen Stadt.

Bildunterschrift: Befreier Leningrads und Eroberer Berlins: Marschall Schukow soll ein Denkmal gesetzt werden

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 28.01.1994

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Weiterführende Quelle: Kurzbiographie Marschall Schukow

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