Kommunisten wollten überall „Vorhut“ sein und andere Gruppen vor vollendete Tatsachen stellen – Grundstein für autoritären Herrschaftstil gelegt

In der Trümmerwüste Berlin suchte kurz nach Kriegsende der alte sozialdemokratische Funktionäre Erich Grniffke seinen langjährigen Freund Otto Grotewohl. Gniffke bahnte sich seinen Wegvorbei an ausgebrannten Panzern, verkohlten Baumstämmen, endlosen Ruinen. Am Abend endlich fand er Grotewohl im Haus Bülowstraße 7. Die beiden Männer lagen sich in den Armen und begannen Zukunftspläne zu schmieden. Sie wollten möglichst rasch die SPD wiedergründen.

Zu diesem Zeitpunkt, es war Mitte Mai 1945, wußte Grotewohl von einer überraschenden Neuigkeit zu berichten: Die ersten KPD-Funktionäre waren bereits ausgeschwärmt, um die Berliner Verwaltung wieder aufzubauen. Gniffke: „Bei Grotewohl und mir meldeten sich viele alte Sozialdemokraten. Sieberichteten, daß die Kommunisten bereits mit der Mitgliederwerbung begonnen und das Gerücht verbreitet hätten, daß es nur die KDP als einzige Partei der Werktätigen geben werde.“

Was hatten die Kommunisten vor? Grotewohl schrieb einen Brief an Arthur Pieck, Sohn des späteren Staatspräsidenten Wilhelm Pieck. Doch eine Antwort blieb aus. Gniffke: „Wir tappten weiter im dunkeln und konnten uns nicht erklären, warum die Kommunisten sich nicht bei uns sehen ließen.“ Erst am 12. Juni 1945 gab es das erste Treffenzwischen Grotewohl und jenem Mann, der bei der KDP die Fäden zog: Walter Ulbricht, damals 52 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt kursierte bereits der Gründungsaufruf der KPD.

Heute ist klar, warum sich Ulbricht so lange verleugnen ließ. Die Kommunisten wollten überall die „Vorhut“ bilden und andere Gruppen vor vollendete Tatsachen stellen. Bereits am 30. April 1945, während in und um Berlin noch gekämpft wurde, war die „Gruppe Ulbricht“ via Flugzeug von Moskau nach Deutschland zurückgekehrt. Die „Gruppe Ulbricht“, bestehend aus zehn Personen, die zunächst in Bruchmühle 35 Kilometer östlich von Berlin Quartier nahm, setzte konsequent die Weisungen Stalins um: Aufbau einer „antifaschistisch-demokratischen“ Verwaltung in den 20 Berliner Stadtbezirken.

Der Jüngste aus dieser Spezialeinheit, Wolfgang Leonhard, hat in seinem Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ beschrieben, welche Vorgaben Ulbricht machte: “Kommunisten als Bürgermeister können wir nicht brauchen, höchstens in Wedding oder in Friedrichshain. Die Bürgermeister sollen in den Arbeiterbezirken in der Regel Sozialdemokraten sein. In den bürgerlichen Vierteln – Zehlendorf, Wilmersdorf, Charlottenburg usw. – müssen wir an die Spitze einen bürgerlichen Mann stellen. Am besten, wenn er ein Doktor ist. Er muß aber gleichzeitig ein Mann sein, mit dem wir gut zusammenarbeiten können. Jedenfalls müssen zahlenmäßig mindestens die Hälfte aller Funktionen mit Bürgerlichen oder Sozialdemokraten besetzt werden.“

Ulbricht dozierte weiter: „Und nun zu unseren Genossen. Der erste stellvertretende Bürgermeister, der Dezernent für Personalfragen und der Dezernent für Volksbildung – das müssen unsere Leute sein. Dann müßt ihr noch einen ganz zuverlässigen Genossen in jedem Bezirk ausfindig machen, den wir für den Aufbau der Polizei brauchen.“ Und dann die wichtigste Mahnung an seine Mitstreiter: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“

Jeden Abend kamen die Gruppen-Mitglieder in Bruchmühle , später in Berlin-Lichtenberg zusammen, erstatteten Bericht, nahmen neu Weisungen Ulbrichts entgegen – zum Beispiel Tonbänder beim Berliner Rundfunk über den Hitler-Stalin-Pakt beschlagnahmen, Trotzkisten aufspüren, spontan gegründete und unabhängige Anti-Nazi-Gruppen auflösen.

Leonhard über Ulbricht: „Seine Hauptstärke war sein organisatorisches Talent, sein phänomenales Namensgedächtnis, seine Fähigkeit, jeweilige Moskauer Kurswechsel vorauszuahnen, und seine unermüdliche Arbeitskraft. Selbst nach den arbeitsreichsten Tagen schien er nicht erschöpft zu sein. Unbelastet von theoretischen Überlegungen und persönlichen Gefühlen – ich habe ihn selten lachen hören und erinnere mich nicht, jemals bei ihm eine persönliche Gefühlsregung bemerkt zu haben – gelang es ihm meines Wissens immer, die ihm von sowjetischer Seite übermittelten Direktiven mit List und Rücksichtslosigkeit durchzusetzen.“

Die „Gruppe Ulbricht“ bestand aus folgenden Personen: Walter Ulbricht, langjähriger Staats- und Parteichef der DDR, starb 1973. Fritz Erpenbeck (1897 bis 1975) war Theaterkritiker und Chefdramaturg. Gustav Gundelach (1888 bis 1962) gehörte als KPD-Abgeordneter dem ersten Bonner Bundestag an. Richard Gyptner (1991 bis 1972) arbeitete im diplomatischen Dienst der DDR. Walter Köppe (1891 bis 1979) lehrte an der Parteihochschule „Karl Marx“. Karl Maron (1903 bis 1975) war DDR-Innenminister. Otto Winzer (1902 bis 1975) amtierte als DDR-Außenminister. Ferner war Otto Fischer beteiligt, ein „technischer Mitarbeiter“, über den keine biographischen Details bekannt sind. Zwei aus der „Gruppe Ulbricht“ sind noch am Leben: Wolfgang Leonhard und Hans Mahle.

Leonhard, Jahrgang 1921, flüchtete unter dem Eindruck der Anti-Tito-Kampagne 1949 nach Belgrad. Er lebt heute in Manderscheid/Eifel und gilt als führender Kommunismus-Experte. Hans Mahle, Jahrgang 1911, wohnt in Berlin-Steglitz und ist PDS-Mitglied. Er fiel 1951 in Ungnade und war zuletzt Chefredakteur der West-Berliner-SEW-Zeitung „Die Wahrheit“.

Schicksalhafte Begegnung

Mahles Lebenserinnerungen sind bislang unveröffentlicht. 1974 sollten seine Memoiren im Dietz-Verlag erscheinen, doch die SED-Spitze verhinderte das. Seine Aufzeichnungen sind unter anderem deshalb so aufschlußreich, weil er bei einer schicksalhaften Begegnung dabei war – dem ersten Treffen zwischen Walter Ulbricht und Erich Honecker. Mahle hatte Honecker zufällig in Berlin auf der Straße wiedererkannt und gleich mit Ulbricht bekanntgemacht.

Der Diskussionsbedarf unter Kommunisten war unendlich groß in jenen Wochen des Neubeginns. Doch die „Gruppe Ulbricht“ forcierte von Anfang an das Prinzip des undemokratischen Zentralismus. Als Ende Mai 1945 einige Kommunisten bei Ulbricht vorstellig wurden, um auf das traurige Los der von den russischen Soldaten vergewaltigten Frauen aufmerksam zu machen, hörte er sich das mit verkniffenem Gesicht an. Dann polterte er los: „Abtreibungen zu gestatten, ist vollkommen ausgeschlossen. Die Diskussion über dieses Thema betrachte ich als abgeschlossen“.

Nicht besser erging es Bernard Koenen, als er Ulbricht bat, zwei Werkhallen der Leuna-Werke, die für die Düngemittel-Produktion wichtig waren, von der Demontage-Liste zu streichen. Ulbricht schnitt Koenen das Wort ab: „Ich wünsche nichts mehr davon zu hören. Wir werden uns sonst auf anderer Basis unterhalten.“

Auch der gutmütige Grotewohl mochte die Apparatschik-Allüren Ulbrichts nicht. Nach seiner ersten Begegnung sagte Grotewohl zu Gniffke: „Ein gefährlicher Bursche, dieser Ulbricht, der wird uns noch zu schaffen machen.“

Die „Gruppe Ulbricht“ legte 1945 den Grundstein für eine autoritäre Herrschaftsform – mit Funktionären, denen die „richtige Linie“ mehr bedeutete als eigenständiges Handeln; mit Mitgliedern, vollgestopft mit „Kaderwelsch“, die serviles Anpassertum mit Disziplin verwechselten. Das Ergebnis war eine „negative Kaderauswahl“. Und diese Hypothek der „Gruppe Ulbricht“ legte zugleich den Keim für den Anfang vom Ende der DDR.

Bildunterschrift: Ahnte stets Kurswechsel in Moskau voraus und zeigte nie Gefühle: Walter Ulbricht, hier mit Franz Dahlem (l.) und Hans Jendretzky im März 1946 auf der 1. Reichskonferenz der KPD in Berlin, und:
Partner Ulbrichts: Otto Grotewohl (l.) und Wolfgang Leonhard, der später ein vielbeachtetes Buch über diese Zeit schrieb

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 09.05.1995

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Weiterführende Quelle: Nachruf auf Wolfgang Leonhard

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