Russisches Komitee kämpft um die Befreiung Wehrpflichtiger
Leise und sanft spricht Ludmilla Sintschenko aus Tscheljabinsk (Ural). Doch ihre leisen Töne unterstreichen eher die entschiedene Stärke und Kraft, mit der die Mutter von Zwillingen (zwei 24jährige Söhne) gegen das russische Militär kämpf.
Ludmilla Sintschenko und viele tausende anderer Soldaten-Mütter haben sich zusammengefunden, um ihre Kinder aus dem Kasernen zu befreien. Allein im Tscheljabinsker Gebiet gelang es ihnen bisher, 10 000 junge Männer vom Wehrdienst loszueisen. Und es werden immer mehr Mütter und Großmütter, die sich im gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ein Herz fassen, und den mächtigen Militärs unerschrocken die Stirn bieten.
„Der Krieg in Tschetschenien hat das Faß zum Überlaufen gebracht“, sagt Ludmilla Sintschenko. Auf Einladung der PDS-Bundestagsgruppe war sie gestern in Bonn und wird heute auch von Bundestagspräsidentin Rita Sußmuth empfangen. Ludmilla hat als Mitglied des Koordinierungsrates des „Komitees der Soldaten-Mütter Rußlands“ den Friedensmarsch der Mütter in das tschetschenische Kriegsgebiet Mitte Januar dieses Jahres mitorganisiert und miterlebt.
Noch heute ist ihr die Enttäuschung und Erschütterung anzumerken, wenn sie erzählt, wie die Frauen sechs Stunden lang im Eisregen vor den Truppen des russischen Innenministeriums knieten, die ihren Marsch in die umkämpfte tschetschenische Hauptstadt Grosny stoppten. Wie sie im Schutz der Dunkelheit von Panzern eingekreist, von Maschinenpistolen bedroht, von „Rotznasen“ in Busse verfrachtet und viel „tatsächlich wie Säcke“ in die Flugzeuge geschmissen worden seien.
Doch die Erinnerung an den bisher einmaligen Friedensmarsch der Mütter auf dieser Welt hat den Beteiligten auch Mut gemacht. Denn in allen Städten, die sie passierten, fanden sie große Unterstützung anderer Mütter – besonders begeistert hatten sich tschetschenische Frauen angeschlossen. „Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie dieser Marsch von den tschetschenischen Müttern erwartet wurde. Sie standen an der Straße und weinten“, sagt Ludmilla Sinstschenko leise und bewegt.
Selbst in entlegenen Regionen Rußlands haben sich inzwischen die Frauen zusammengeschlossen. Täglich erhält das Komitee Briefe von Mütter, die das Schicksal ihrer Söhne aufklären wollen. Gegründet worden war die Aktion schon vor sechs Jahren: Zunächst um die stets verschleierten Todesfälle und Gewaltaktionen gegen Wehrpflichte im damals sowjetischen Militärdienst aufzudecken.
Heute sind Frauen, die mahnend die Bilder ihrer vermißten oder umgekommenen Söhne zeigen, auf jeder größeren Veranstaltung in Rußland zu sehen. Falls sie erfahren, wo ihre Kinder sind, holen sie sie häufig nach Hause.
Die Mütter nutzen eine Besuchserlaubnis, um ihren Söhnen Zivilkleidung zu bringen und sie mit nach Hause zu nehmen. Anschließend schreiben sie Erklärungen an die jeweilige Militär-Einheit und an den Staatsanwalt. Sie haben – auch mit Unterstützung von Ärzten und Anwälten – häufig Erfolg.
Diese einmalige Friedensbewegung der russischen Frauen hat Berliner Künstler erst vor wenigen Tagen veranlasst, 8000 Unterschriften zu sammeln, um das Soldaten-Mütter-Komitee“ für den Friedens-Nobelpreis vorzuschlagen. Ludmilla Sintschenko wurde von diesem Vorschlag in Deutschland überrascht: „An so etwas denkt von uns doch niemand“. Für die Feierlichkeiten gestern in Moskau hat sie nur Verachtung übrig: „Ganz Rußland geht in schwarzer Trauer wegen des Krieges und dann so ein Pomp“. Das findet sie „unmöglich“, geradezu unanständig.
Bildunterschrift: Eine russische Mutter demonstriert in Moskau mit dem Bildnis ihres gefallenen Sohnes für die Beendigung des Krieges in Tschetschenien.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 10.05.1995
Weiterführende Quelle: Komitee der Soldatenmütter Rußlands
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