400 000 Waggonladungen für Moskau – Der Osten mußte eine gesamtdeutsche Last tragen

Im Dezember 1941 empfing Stalin den britischen Außenminister Anthony Eden. Sie sprachen über die Kriegslage und über ihre Reparationsforderungen gegenüber Deutschland. Für konkrete Planungen war es noch zu früh. Einigkeit herrschte jedoch, daß nach Kriegsende dem „deutschen Wolf die Zähne gezogen“ werden sollten. Ihre Berater prägten dafür den Begriff „industrielle Entwaffnung“. Ein Jahr später begannen in London, Washington und Moskau die Planungen für die Nachkriegszeit. Unabhängig voneinander schlugen die alliierten Planungsstäbe ihren Regierungen die Demontage eines Teils der deutschen Industrie vor.

Morgenthau-Plan

Für dieses Konzept steht bis heute der Name des amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau. Seine von Anfang an höchst umstrittene Idee vom „harten Frieden“ wurde von US-Präsident Roosevelt und vom britischen Premier Churchill auf der Konferenz von Quebec im September 1944 zunächst gebilligt. Doch der sowohl in den USA als auch im Großbritannien umgehend einsetzende Widerstand gegen diese Planungen ließ Morgenthaus Ideen rasch zu Makulatur werden. Ganze zwei Wochen nach ihrem Treffen in Quebec distanzierten sich Roosevelt und Churchill von dem dort unterzeichneten Dokument.

Weniger bekannt als der Morgenthau-Plan wurden die sowjetischen Nachkriegsplanungen. Dabei gab es in Moskau Politiker, die Morgenthau nichts nachstanden. Selbst im Westen als moderat geltende Politiker wie Maxim Litvinov und Ivan Maiskij verfochten ausgesprochen rigide Nachkriegskonzeptionen.

Die Jalta Konferenz im Februar 1945 stellte den Höhepunkt und zugleich auch den Wendepunkt in der Zusammenarbeit der Kriegsallierten dar. Eine Lehre hatten sie aus den schlechten Erfahrungen der zwanziger Jahre (Versailles-Vertrag) gezogen. Um das leidige Transferproblem zu vermeiden, das das internationale Finanzsystem stark belastet hatte, sollte Deutschland den von ihm verursachten Schaden durch Nachlieferungen und nicht durch Geldleistungen wiedergutmachen. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurden die entsprechenden Reparationsformen genannt: Demontage von Industrieausrüstungen, Beschlagnahmung des deutschen Auslandsvermögens, Entnahmen aus der laufenden Produktion und Heranziehung deutscher Arbeitskräfte zu Reparationsarbeiten. Entscheidende Fragen, insbesondere die Fixierung einer festen Reparationssumme, blieben allerdings offen.

Das prinzipielle Mißtrauen gegenüber den Westmächten veranlaßte die Sowjets zu unabgestimmten „Entnahmen“. Deren Ausführung oblag einem Ende Februar 1945 gebildeten Sonderkomitee. Fortan folgten die Demontage-Brigaden es Komitees sowie zahlreiche „Trophäenbrigaden“ den kämpfenden Truppen. Sie demontierten von März bis Juli 1945 große Teile der Industrie in Ostpreußen, Schlesien, Groß-Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Nach russischen Statistiken haben die Beutegut-Einheiten insgesamt über 400 000 Eisenbahnwaggons mit Industriegütern, Rohstoffen, Lebensmitteln und Haushaltsgütern beladen. All das wurde unter der Rubrik „Kriegsbeute“ verbucht und fand keine Anrechnung auf dem Reparationskonto.

Summe blieb offen

Auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 konnten sich die Siegermächte in wichtigen Punkten nicht mehr einigen. Zwar legte die UdSSR einen Reparationsplan vor, der auf das Protokoll von Jalta aufbaute und wiederrum von deutschen Reparationsleistungen in Höhe von 20 Milliarden Dollar ausging, davon die Hälfte für die UdSSR. Doch mit dieser Forderung drang Stalin nicht durch. Auf Anregung der amerikanischen Seite wurde jede Besatzungsmacht mit ihren Forderungen im wesentlichen auf die eigene Zone verwiesen, ohne daß eine feste Reparationssumme genannt wurde. Die SBZ wurde damit fast zur einzigen Reparationsquelle für die UdSSR und Polen und mußte damit eine an sich gesamtdeutsche Last allein tragen.

Allein bis März 1946 veranlaßte das Moskauer Sonderkomitee die Demontage von über 4389 Betrieben – in der SBZ waren es 2885, in Polen 1137, in Österreich 206, in Ungarn elf, in der CSSR 54 und in der Mandschurei 96. „Die Wirtschaftsstruktur östlich von Elbe und Werra ist tief erschüttert, so daß für den Fall der Wiederherstellung der deutschen Wirtschaftseinheit mit erheblichen Belastungen zu rechnen ist.“ Diese Einschätzung wurde von amerikanischen Volkswirten ein Jahr nach Potsdam getroffen. Was der alliierte Luftkrieg nicht vermocht hatte, das erreichten nun die Demontage-Trupps.

Deutsche Ohnmacht

Proteste gegen das rigorose sowjetische Vorgehen halfen nur wenig. Der thüringische Ministerpräsident Paul beschrieb die Ohnmacht der Landesverwaltungen: „Aus dem Dunkel kommend, wurden in einer Nacht zum Sonntag zahlreiche Betriebe vom Militär besetzt und fast hermetisch nach außen abgeschlossen. Ein langes Kämpfen setzte ein: Um Betriebe, um Eisenbahnstrecken, um lebenswichtige Anlagen. Dieser oder jener Erfolg wurde verbucht, im großen und ganzen aber liefen die Demontagen auf einen unerbittlichen Nenner hinaus: Moskau hatte befohlen!“

Die vor dem Krieg hochentwickelten Industrieregionen in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt sowie Berlin und sein Umland verloren ungefähr die Hälfte ihrer Kapazitäten, gemessen am Vorkriegsstand. Schätzungen zufolge verursachten die Demontagen in der SBZ Verluste in Höhe von ca. sechs Milliarden Reichsmark. Weltbekannte Werke wie Carl Zeiss, Auto Union oder die Leuna-Werke verloren den größten Teil ihrer Anlagen. Manche Werke wurde nach ihrem Wiederaufbau nochmals demontiert.

Alles auf die Räder

Getreu dem Grundsatz „Alles auf die Räder“ wurde so viel Tonnage so schnell als möglich verladen. Ob die Ausrüstungen und Maschinen über in der Sowjetunion zu verwenden waren, spielte keine Rolle. Große Teile der oft unsachgemäß entnommenen Güter besaßen nur noch Schrottwert. Inzwischen haben russische Historiker den geringen Nutzen der Demontagen für die sowjetische Wirtschaft bestätigt. So finden sich in betrieblichen Unterlagen zahlreiche Schilderungen wie „Ein Großteil des Beutegutes liegt unter Schneewehen begraben.“

Die nachhaltigsten, praktisch bis zum Ende der DDR spürbaren Wirkungen gingen indes von den Demontagen des Schienennetzes aus. Nahezu die Hälfte des Gleisnetzes, insgesamt 11 800 Kilometer Gleise, wurden abgebaut. Das „zweite Gleis“, also das Parallelgleis, verschwand weitgehend, und auch der Güterwagenpark und der Lokomotivbestand wurde stark dezimiert.

Widersinn im Westen

Die Politik der industriellen Abrüstung wurde zunächst auch von den Westallierten verfolgt. Gemäß dem alliierten Industrieniveauplan vom März 1946 sollte die deutsche Wirtschaftskapazität auf 50 bis 55 Prozent des Standes von 1938 reduziert und 1800 Anlagen abgebaut werden. Im Zuge des 1946/47 aufbrechenden Ost-West-Konflikts wurde dieser Plan aber verworfen und die alliierten Demontage-Programme für die Westzonen sukzessive reduziert. Insgesamt wurde bis 1951 667 Werke demontiert, davon 433 in der britischen, 124 in der amerikanischen und 110 in der französischen Zone. Zum Vergleich: allein in Sachsen wurden von den sowjetischen Demontagetruppen dagegen mehr als 900 Betriebe abgebaut.

Nach der Währungs- und Bewirtschaftungsreform und dem Anlaufen des Marshallplans Mitte 1948 mußte die Fortsetzung der Demontagen widersinnig erscheinen. Zeitweilig nahm die deutsche Haltung zum Teil Formen eines passiven Widerstandes an. Zu den größten Protestaktionen kam es im Frühjahr 1950 im Raum Salzgitter. Doch entgegen vielfachen Befürchtungen blieben die Wirkungen der Demontagen im amerikanischen und britischen Besatzungsgebiet eher marginal. Die westdeutsche Industrie verlor dadurch ungefähr drei bis fünf ihrer Kapazitäten Der absolute Wert der Demontageverluste in den Westzonen wird auf zwei bis drei Milliarden Reichsmark beziffert.

Transfer von Know-How

Die nachhaltigste Form der alliierten Reparations-Entnahmen bestand im Transfer von Know-how und Wissenschaftlern in die USA und Großbritannien sowie der Beschlagnahmung von Patenten und Warenzeichen. Inzwischen halten amerikanische Historiker dadurch entstandene Verluste von bis zu zehn Milliarden Dollar für möglich. Doch auch in bezug auf den Transfer von Know-How standen die Sowjets ihren vormaligen Verbündeten in nichts nach. Sie verbrachten allein im Oktober 1946 ungefähr 2000 deutsche Spezialisten in die UDSSR. Dort arbeiteten die Wissenschaftler und Techniker vornehmlich an rüstungswichtigen Projekten in der Atom-, Raketen- und Flugzeugindustrie.

Große volkswirtschaftliche und soziale Belastungen verursachten von 1945 bis 1953 auch die Entnahmen aus der laufenden Produktion. Im Zuge der Produktion von Reparationsgütern entstanden im Osten Deutschland reine Reparationsindustrieen. So wurde der Schiffbau an der  Ostseeküste ausschließlich im Interesse der sowjetischen Reparationsforderungen aufgebaut. Bis 1953 lieferten die dortigen Werften über 1300 Schiffe an die UDSSR. Zur gleichen Zeit begann im Süden der Uranbergbau der Wismut AG.

Tatsächlich sah es so aus, als ob die Deutschen in West und Ost nicht den gleichen Krieg verloren hatten. Die SBZ/DDR erbrachte von 1945 bis 1953 an Reparationsleistungen vorsichtig geschätzt rund 54 Milliarden RM/DM zu laufenden Preisen oder umgerechnet annähernd 14 Milliarden Dollar zu Preisen von 1938 – also wesentlich mehr, als die UdSSR ursprünglich von ganz Deutschland gefordert hatte.

Bildunterschrift: Arbeiter protestieren während der Abbauarbeiten gegen die von der britischen Regierung befohlene Demontage der Salzgitterwerke und
Demontage von Gleisen des Berliner Eisenbahnnetzes, die in die Sowjetunion transportiert werden sollen. Die Länge des Schienennetzes in Ostdeutschland wurde insgesamt auf die Hälfte reduziert.

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 19.12.1995

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Weiterführende Quelle: Reparationszahlungen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in den Jahren 1945 bis 1952

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