Einige Gedanken zu dem Beitrag „Zu früh für eine Aussöhnung“, MZ vom 31. Juli 1995, Seite 3. Es gibt in Deutschland sehr viel Unwissenheit zum sudentendeutschen Problem. Grundsätzlich muß festgestellt werden, daß die jetzt lebenden Generationen der Tschechen und Deutschen für die Politik der Vergangenheit, beispielsweise seit 1918, als Österreich-Ungarn zerfiel, nicht verantwortlich sind. Inzwischen wohnt in meinem Elternhaus seit 1945 die vierte Generation. Was sollen also Diskussionen über eine Rückkehr? Wollen denn die Nachkommen der Vertriebenen überhaupt wieder zurück?
Nach dem Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1918 wurden die Sudentendeutschen und auch die Ungarn (im Süden der Slowakei) nicht gefragt, ob sie Tschechoslowaken werden möchten. Genauso wenig wurden die Deutschen und Ungarn in Siebenbürgen, die Slowenen, Kroaten, Bosnier und Albaner (Kosovo) oder die Deutschen in Südtirol gefragt, ob sie nunmehr Rumänen, Jugoslawen oder Italiener werden möchten. Die Grenzziehungen erfolgten willkürlich oder entlang der österreichisch-ungarischen Verwaltungsbezirke.
Die nach 1919 einsetzende „Tschechisierung“ der deutschsprachigen Gebiete war dann die Ursache, daß die Sudentendeutschen sich kaum als tschechische Staatsbürger fühlten. Da die Deutschen nu in den seltensten Fällen tschechisch konnten, wurden sie bei der Bahn, Post, Polizei, Zoll nach und nach durch Tschechen ersetzt. Staatsaufträge gingen nur noch an tschechische Betriebe. Die Arbeitslosenquote in deutschen Landesteilen erreichte teilweise 23 Prozent. Wen wundert es da, daß die Sudentendeutschen „heim ins Reich wollten“. Aber dort war inzwischen der Nationalsozialismus an die Macht gekommen. Der Münchener Vertrag von 1938 ist letztendlich die direkte Folge der tschechischen Politik. Wir Deutsche müssen mit unserer Lidice-Vergangenheit und die Tschechen mit ihrer Aussig-Vergangenheit fertig werden.
Staatspräsident Havel hat sich trotz scharfer Kritik im eigenen Land bei den Sudentendeutschen entschuldigt, sagte aber auch, daß es nicht möglich ist, die Schuld gegenseitig aufzurechnen. Ich hoffe, daß auch die Kritiker an der Entschuldigung von Vaclav Havel noch etwas Einsicht lernen und die „Alt-Deutschen“ die sudentendeutsche Frage in Zukunft in etwas Licht sehen.
Dietrich Krolopp, Halle
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 26.08.1995
Weiterführende Quelle: Heimat im Kopf
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