Eigentlich war er zu „Mal-Ferien“ in die Schweiz eingeladen. Aber der Politiker Churchill nutzte eine Rede von 50 Jahren, um seine Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ zu entwickeln.
Manchmal, in seltenen Glücksstunden geschieht es, daß einer der Geschichte um Meilen vorauseilt und Entwicklungen anstößt, deren Konsequenzen sich selbst in den kühnsten Träumen noch keiner ausmalen kann.
Ein solches Nichtereignis, das die Weltpolitik unverhofft in eine neue Richtung gelenkt hat, war Winston Churchills Rede vor den Studenten der Universität Zürich. Vor 50 Jahren, am 19. September 1946, rief er die Völker Europas zur Union und Deutsche und Franzosen zur Versöhnung auf. Nicht einmal anderthalb Jahre nach einem Krieg, der Europa in Schutt und Asche gelegt hatte, war ein solcher Appell zur Nachsicht gegenüber den Deutschen als den Schuldigen und den Verlierern eine Sensation.
Doch es ist typisch für die Zeichen der Zeit, daß die Schweizer Staatsmänner, die ihr Land mühsam neutral gehalten und sich doch wegen der wirtschaftlichen Kooperation mit den Nazis ein schlechtes Gewissen verdient hatten, nach Kräften versuchten, den Auftritt Churchills herunterzuspielen. Es lohnt sich, zu erzählen, wie schwierig das damals alles war und in welchen Zusammenhang es gehörte. Churchill kam nämlich in doppelter Funktion in die Schweiz – als gefeierter Kriegspremier, der Europa durch seinen Widerstandswillen vor der Barbarei des Nazi-Totalitarismus bewahrt hatte, und als britischer Oppositionsführer, der gleich nach dem Krieg von seinem eigenen Volk abgewählt worden war.
Das Anleiern des zusammengebrochenen Tourismus im Alpenland mag mitgespielt haben, als man ihn zu „Mal-Ferien“ einlud, um seinem Hobby zu frönen, doch aus der Politik hielt man ihn soweit wie möglich heraus: Gerade in jenen Herbsttagen 1946 nahm die Schweiz diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf, gerade damals unterstrich sie auch im beginnenden Ost-West-Konflikt ihre klassische Neutralität.
Churchill aber war einer, der damals schon mahnte. Ein paar Monate zuvor hatte er in Fulton in Amerika den berühmt gewordenen Schlagsatz geprägt, über Osteuropa senke sich ein „eiserner Vorhang“ herab. Deshalb sollte er in der Schweiz nur vor den Studenten der Universität Zürich sprechen, aber er sollte keine politische Rede in der „Öffentlichkeit“ halten.
Die Landesväter hatten freilich einen merkwürdigen Öffentlichkeitsbegriff, wenn sie meinten, die Ansprache des gefeierten Kriegshelden werde im Sande versickern; und Churchill at das Seine dazu, daß sie nicht im Verborgenen blieb. „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen“, rief er aus und schuf so, noch vor Konrad Adenauer und vor den Franzosen Jean Monat und Robert Schuman, die geistigen Grundlagen der Europa-Idee. Er ging noch weiter und wurde konkret: „Der erste Schritt bei der Wiederherstellung der Europäischen Familie muß eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein“. Und er lieferte für die notwendige Versöhnung der historischen Erzfeinde auch gleich die Begründung: „Nur so kann Frankreich die moralische und kulturelle Führerschaft über Europa wiedererlangen“, denn „die Gefahren sind noch nicht vorbei“ – eine Warnung vor dem sich abzeichnenden Ost-West-Konflikt, den er freilich in Fulton zuvor schon deutlicher vorausgesagt hatte.
Die Rede vor dem exklusiven Studentenpublikum wurde natürlich über die Radiostationen aller Welt zur Kenntnis gebracht, und Churchill hatte an ihrer Formulierung die ganze Nacht über gefeilt und geschliffen. Ein Mitgründer der Einheit Europas ist er trotzdem nicht geworden – nicht nur, weil er erst 1951 noch einmal für vier Jahre zur Regierungsmacht kam: Er redete den europäischen Institutionen das Wort, aber für die Briten sah er eigene, abgesonderte Welt.
Er erhoffte im Zusammenschluß der anderen Schutz vor den expansiven Gelüsten der Sowjetunion, aber Vorrang im eigenen Land verlieh er dem atlantischen Pakt mit den Amerikanern und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der „englischsprachigen Welt“. Seine großen Appelle in Fulton und Zürich wurden aus der Befürchtung geboren, daß ein dritter Weltkrieg, diesmal gegen die Sowjetunion, fast unausweichlich sei.
So kommt es, daß sich in Großbritannien heutzutage Europagegner und Europafreunde in gleicher Weise auf den großen Staatsmann berufen. Ehrlicherweise muß man zugeben, daß die „Vereinigten Staaten Europas“ für ihn eher Mittel zum Zweck als überragendes Ziel waren. Großbritannien selbst ist fünfzehn Jahre zu spät in den europäischen Einigungsprozeß eingetreten und leidet noch heute darunter, und als Regierungschef von 1951 bis 1955 war der große Mann mitschuldig am Fernbleiben seines Landes.
Bildunterschrift: Winston Churchill mit dem berühmten Siegeszeichen (Wahlkampf 1959) und
Im Oktober 1944 legten Churchill und Stalin in Moskau ihre Einflußzonen auf dem Balkan fest (Foto während eines Pressetermines). Zwei Jahre später entwickelt Churchill die Europe-Idee, um den sowjetischen Kommunismus einzudämmen.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 05.10.1996
Weiterführende Quelle: Rede Winston Churchills
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