Wissenschaftler sieht Verletzung des Völkerrechts – Aufhebung problematisch
Mehr als 50 Jahre nach dem Kriegsende werden die deutsch-tschechischen Beziehungen noch immer von den Benesch-Dekreten belastet. Die von dem damaligen tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Eduard Benesch erlassenen Gesetze bildeten die Grundlage für Enteignung und Vertreibung mehrerer Millionen Menschen, deren Familien seit Generationen in Böhmen und Mähren gelebt hatten- ein Ereignis, an das die Betroffenen, ihre Kinder und Enkel alljährlich zu Pfingsten erinnern. Regelmäßig wird auf diesen Treffen der Sudetendeutschen gefordert, die Dekrete aufzuheben.
Politiker ziehen Schlußstrich
Für neuen Zündstoff in der Diskussion hatten Anfang März Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein tschechischer Amtskollege Milos Zeman gesorgt. Beide erklärten, das Verhältnis zwischen Bonn und Prag solle nicht mehr durch rechtliche oder finanzielle Fragen gestört werden. Insbesondere Schröder erteilte Forderungen aus den Reihen der Vertriebenen eine klare Absage, die Aufnahme Prags in der EU mit einer Rückgabe von Vermögen an die Sudetendeutschen zu verknüpfen. Solche Ansprüche seien Teil einer „abgeschlossenen Epoche“.
Wenig später ließen dann neue Töne aus Tschechien aufhorchen. Prager Rechtsexperten erklärten, daß die Benesch-Dekrete zwar fester Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung, aber nicht mehr anwendbar seien. Zugleich wurde eine Streichung ausgeschlossen – für den juristischen Laien schwer nachzuvollziehen.
Hermann Weber, Völkerrechtler an der Universität Hamburg, sagt dazu: „Wenn man heute erklärt, die Benesch-Dekrete sind alle von Anfang an nichtig gewesen, dann würde man sehr viel Rechtshandlungen, die auf der Basis dieser Dekrete vorgenommen worden sind, juristisch in Frage stellen. Also Leute, die damals sudetendeutsches Eigentum erworben haben, würden sich plötzlich in der Situation sehen, daß sie einen unrechtmäßigen Besitz haben. Viel sudetendeutsche ehemalige Eigentümerwürden dann ihr Eigentum zurückfordern können. Um diese Folge zu vermeiden, ist man sehr zögerlich, diese Dekrete nachträglich für rechtsungültig zu erklären.“
Der Wissenschaftler hält die Benesch-Dekrete „in der Formulierung, in der sie getroffen wurden“, für völkerrechtswidrig. „Und zwar deswegen, weil sie illegale Enteignungsmaßnahmen anordneten. Die Enteignung ist nur dann zugelassen, wenn sie zum allgemeine Wohl vorgenommen wird und wenn eine Entschädigung geleistet wird“, erklärt er. Das sei ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völkerrechts. Die Entschädigung müsse zudem angemessen, effektiv und prompt sein.
„Wenn die Benesch-Dekrete aber eine Bodenreform zum Ziel hatten, dann durfte die Umverteilung von Eigentum nicht gezielt nur gegen einzelne Personen oder Personengruppen ggerichtet werden, sondern mußte alle gleich treffen“, so Weber, Auch dahingehend seien die Dekrete völkerrechtwidrig gewesen. „Und schließlich auch, weil der Staat einer bestimmten Auswahl seiner Bürger die Staatsbürgerschaft entzog, sie zur Zwangsarbeit verpflichtete und sie damit praktisch rechtlos machte.“
„Wenn man den Sudetendeutschen, wie auch der ungarischen Minderheit, vorgeworden hat, daß sie sich unrechtmäßig verhalten haben, daß sie beispielsweise mit der SS an Erschießungsaktionen teilgenommen haben, daß sie tschechoslowakische oder andere Bürger drangsaliert haben, dann hätte man die Beschuldigten ganz konkret nach den Strafgesetzen des Landes vor Gericht stellen müssen“, sagt Weber. „Ergebnis einer Verurteilung könnte dann möglichweise auch ein Vermögenseinzug sein.“ Aber ohne ein solches individuelle Gerichtsverfahren ganze Bevölkerungsgruppen pauschal zu enteignen oder ihnen die Staatsangehörigkeit zu entziehen, das sei nach Völkerrecht nicht zulässig.
Der Wissenschaftler ist der Auffassung, daß heute auch viel Tschechen so dächten. Die Frage sei nur: Wie schaffen wir die Benesch-Dekrete aus der Welt? Dazu gebe es nur eine Möglichkeit: „Die Tschechische Republik als Rechtsnachfolgerin der Tschechoslowakischen Republik muß sich mit der Bundesregierung, die zur Vertretung der betroffenen Sudetendeutschen legitimiert ist, darüber einigen, in welcher Weise man einen Ausgleich schafft.“
Angst der Sudentendeutschen
Die Sudetendeutschen befürchten allerdings, daß die Schlußstricherklärung Schröders und Zemans von Anfang März den Verzicht auf Vermögensansprüche, die Versagung des diplomatischen Schutzes bedeutet. Sicher habe „jeder Staatsbürger der Bundesrepublik, dazu gehören auch die ehemaligen Sudetendeutschen, der Grundbesitz oder Vermögen in der Tschechischen Republik verloren hat, Anspruch darauf, daß die Bundesregierung seine Recht für ihn bei der Regierung in Prag geltend macht“, meint Weber. Doch er verweist darauf, daß es für die Bundesregierung auch einen „Ermessensspielraum“ gibt. „Sie hat die Möglichkeit, das politische Klima zu berücksichtigen. Sie wird abwägen, ob durch eine solche Geltendmachung die zwischenstaatlichen Beziehungen gestört oder in einer brisanten Weise behindert werden. Wenn sie zu dem Ergebnis kommt, die Forderung sei es nicht wert, die deutsch-tschechischen Beziehungen auf Jahre zu belasten, dann kann sie den diplomatischen Schutz für die Durchsetzung des Rechts einzelner ihrer Bürger auch verweigern“, erläutert er.
Das Problem ein für allemal aus der Welt zu schaffen, sei eine Aufgabe der Politik, meint Werber. „Das Recht sagt nur, wie es ist. Entscheiden können nur die Politiker, indem sie neues Recht schaffen“, unterstreicht er. „Und wenn die Politiker sich aus irgendwelchen Gründen davor scheuen, weil sie fürchten, irgendwo anzuecken oder Wähler zu vergraulen, dann bleibt das Problem ungelöst“, resümiert Weber.
Hintergrund – Benesch-Dekrete
Die mehr als 100 Benesch-Dekrete sollten 1945 nach sechsjähriger Besetzung durch Nazi-Deutschland die Rechtsordnung in der Tschechoslowakei wieder herstellen. Auf der Grundlage von fünf dieser Verfügungen wurden Deutsche und andere Minderheiten enteignet. Gleichzeitig schufen sie die Voraussetzungen für die Ausweisung.
Ein Amnestie-Gesetz erklärte zudem alle im Zeitraum vom 30. September bis zum 28.Oktober 1945 begangenen Taten für straffrei, die als „gerechte Vergeltung für die Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer“ galten. Zuvor hatten die sogenannten wilden Vertreibungen Tausende Opfer gefordert.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 22.05.1999
Weiterführende Quelle: Benes-Dekrete
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