Gestrandet in der Irrenanstalt
Der Patient mit dem Namen Tomasch Andreasch gehört für Personal und Patienten in der psychiatrischen Klinik der russischen Kleinstadt Kotelnitsch zum lebenden Inventar. Seit 52 Jahren haust der völlig verschlossene Mann in der Irrenanstalt. Tomka, wie er genannt wird, ist die Harmlosigkeit in Person: Er sitzt am liebsten in einer Ecke, Gesicht zur Wand. Völlig in sich gekehrt, spricht er selten und dann unverständlich – offenbar ungarisch.
Tomka liebt Pferde. Früher musste man aufpassen, dass er sein Essen nicht in den Stall trug. Auch Autos mag er sehr: Er wäscht sie, auch wenn ihn niemand darum bittet. Ab und zu macht er eine Handbewegung, als würde er den nächsten Gang einlegen. Er sei Panzerfahrer gewesen, erklärte deshalb eine Krankenschwester der Zeitung Iswestija, die jetzt über den letzten Gefangenen des Zweiten Weltkriegs berichtete. Auch offiziell ist über den Patienten mit der Diagnose „schwere Psychose“ kaum mehr bekannt: In seiner Akte steht das Geburtsjahr 1925, als Geburtsort Rumänien, als Schulbildung fünf Klassen sowie das Kürzel für Kriegsgefangener. 1947 war der 22-jährige Ex-Wehrmachtssoldat aus einem Militärhospital in die Psychiatrie überstellt worden. Offenbar war sein Verstand an den elenden Lebensbedingungen zerbrochen.
Andreasch ist kein Einzelfall: In der Anstalt erinnert man sich, dass früher auch ein Schwede und vier Deutsche unter den Insassen waren. Die ersten zehn Jahre war Andreasch ein schwieriger Patient: Wenn er nicht apathisch in seiner Ecke lag, schrie er und fing Prügeleien an. Ende der 50er Jahre kam wieder Leben in den jungen Mann: Wie ein Hund sei er dem Klinik-Installateur gefolgt und habe ihm geholfen. Da nach dem Krieg Männer fehlten, umwarben Putzfrauen und Schwestern den Patienten. Vergeblich.
Weil es der Klinik an Geld fehlt, unternahm man vor kurzem den Versuch, für Andreasch eine Rente und einen Ausweis zu beantragen. Doch die Versuche zur Klärung seiner Identität verlieben ergebnislos. Das Militärkrankenhause, das ihn 1947 überwies, ist lange aufgelöst; die Akten im zuständigen Militär-Archiv sind aber nur bis 1946 vorhanden. Eine Anfrage an das ungarische Rote Kreuz brachte auch nichts: Man benötige dazu die kompletten Personendaten. Wüsste man die in Kotelnitsch, wäre der fremde Kostgänger wohl schon lange in seine Heimat zurückgebracht worden. Doch so bleibt er als letzter „Kriegsgefangener“ in Russland: ein Opfer des Krieges, der Sowjet-Bürokratie und seines zusammengebrochenen Verstandes.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 30.11.1999
Weiterführende Quelle: Die letzten Heimkehrer 1955/56
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