Keine Einigung über Bewertung der Urteile der NS-Militärjustiz
Der Rechtsausschuß des Bundestages hat sich gestern wiederum nicht darauf verständigen können, die Urteile der nationalsozialistischen Militärjustiz gegen Deserteure der Hitler-Wehrmacht generell für Unrecht zu erklären. Nach stundenlangem Feilschen um einzelne Textpassagen vertagte sich der Ausschuß. Der Abgeordnete der Grünen, Volker Beck, sprach anschließend von einem „skandalösen Vorgang“.
Es ging um einen Entschließungsantrag der Koalition zur Rehabilitierung und Entschädigung von Wehrmachtssoldaten, die während des Zweiten Weltkrieges als Deserteure, Kriegsdienstverweigerer oder „Wehrkraftzersetzer“ verurteilt wurden. Die Koalition stuft diese Urteile „bei Anwendung grundlegender rechtsstaatlicher Wertmaßstäbe“ als Unrecht ein. Das wird jedoch durch einen Nachsatz eingeschränkt: „Anderes gilt, wenn bei Anlegung dieser Maßstäbe die der Verurteilung zugrundeliegende Handlung auch heute Unrecht wäre.“ SPD und Grüne wandten gegen diesen Satz ein, daß dann in jedem einzelnen Fall überprüft werden müßte, ob ein Nazi-Unrecht vorgelegen hat. Überlebende Deserteure würden dann weiterhin so lange als vorbestraft gelten, bis sie konkret nachgewiesen hätten, daß ihnen Unrecht angetan worden sei.
Nach Angaben von Historikern hat die NS-Militärjustiz wegen der Delikte Desertion, Kriegsdienstverweigerung und „Wehrkraftzersetzung“ insgesamt 20 000 deutsche Soldaten zum Tode verurteilt. Eine vermutlich ebenso große Zahl wurde in KZ, Straflager oder Strafbataillone gesteckt. Etwa 4000 von ihnen waren bei Kriegsende noch am Leben. Heute sind es noch rund 300 Personen.
Die Union und die FDP haben unterdessen die Bundesregierung aufgefordert, anerkannten Opfern der NS-Militärjustiz eine Einmalzahlung von 7500 Mark zu gewähren. Voraussetzung dafür ist allerdings eine juristische Nachprüfung. Demnach könnte die Entschädigung bereits dann verweigert werden, wenn ein Deserteur auch wegen anderer Delikte wie Uniform- oder Lebensmitteldiebstahl verurteilt worden ist.
Dagegen haben die Grünen einen Gesetzentwurf eingebracht, der ehemaligen Deserteuren von 5000 Mark sowie eine Zusatzrente von 500 Mark pro Monat gewährt. Die Grünen werfen der CDU/CSU vor, auf die Soldaten-Generation in übertriebener Weise Rücksicht zu nehmen.
Pro – Wir sind bis heute vorbestraft
Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz
Hitlers Anweisung folgend, „der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben“, hat die NS-Militärjustiz uns Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und Wehrdienstverweigerern blutig juristisch verfolgt. Und wir sind heute noch alle vorbestraft.
Wie ist so etwas überhaupt möglich? Sicher darum, weil die Richter, welche uns so mörderisch verurteilen, nie belangt wurden, sondern nach dem Krieg weiterhin Karriere machen konnten. Hätten sie unsere Urteile nach dem Krieg aufgehoben, so hätten sie sich selbst anklagen müssen.
Alle SED-Unrechtsurteile der Waldheimprozese sind problemlos im Bundestag pauschal für Unrecht erklärt worden – sogar die gegen Kriegsverbrecher. Bei unseren Urteilen soll das aber nicht gehen. Damit wird uns die geforderte Rehabilitierung bisher pauschal verweigert.
Das „Argument“, unsere Urteile könnten deshalb nicht für Unrecht erklärt werden, weil dadurch die Soldaten der Wehrmacht ins Unrecht gesetzt würden, ist ein rechtsstaatlicher Skandal: Denn man kann dem einen doch nicht sein Recht verwehren, weil dadurch ein anderer angeblich ins Unrecht gesetzt wird.
Es gibt auch die aberwitzige Behauptung, Deserteure könnten ja vor ihrer Desertion gemordet haben. Dabei gibt es bei uns Betroffene, die gerade deshalb desertierten, um nicht morden zu müssen. Sie haben sich geweigert, Frauen und Kinder zu erschießen, mußten deswegen desertieren und sind nun heute noch vorbestraft. Die mitmordeten, sind nicht vorbestraft.
Außerdem wird uns von einigen Abgeordneten vorgeworfen, wir hätten unsere Kameraden an der Front im Stich gelassen und damit ihr Leben gefährdet. Ist diesen Abgeordneten das Leben der Kameraden wertvoller als das Leben der Millionen KZ-Insassen, deren letzte Hoffnung die zusammenbrechende Front war? Millionen Menschen hätten gerettet werden können, wenn die deutschen Soldaten in der Erkenntnis von Hitler für Völkermord mißbraucht zu werden, desertiert wären.
Es brauchte sich kein deutscher Soldat amtlich befragen zu lassen, warum er Hitlers Krieg mitgemacht hat. Aber wir sollen uns jetzt nach 50 Jahren Einzelfall- und Gewissensprüfung unterziehen, warum wir uns Hitlers Krieg verweigerten. Das wäre eine neue Entwürdigung nach einem Leben voller Demütigung.
Kontra – Genaue Prüfung des Einzelfalls
Norbert Geis, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurden viele deutsche Soldaten und Zivilpersonen Opfer von Verurteilungen wegen der Tatbestände „Wehrkraftszersetzung“ und „Fahnenflucht”. Viele von ihnen wurden hingerichtet. Viele dieser Urteile setzten sich über alle Maßstäbe einer menschlichen Justiz hinweg. Solchen krassen Fehlurteilen gilt unser ganzer Widerspruch. Sie sind aufzuheben, wenn sie nicht schon längst für nichtig erklärt worden sind. Niemals darf sich solches Unrecht wiederholen. Den Opfern und ihren Familien bezeugen wir Achtung und Mitgefühl.
Dies kann aber nicht heißen, daß alle Urteile wegen Fahnenflucht Fehlurteile gewesen seien. Gemäß der Paragraphen 69 und 70 des damals geltenden Militärstrafgesetzbuches war Fahnenflucht eindeutig strafbar. Wurde sie im Feld begangen oder lag ein besonders schwerer Fall vor, war das Urteil Todesstrafe oder lebenslängliche Zuchthausstrafe.
Solche Strafandrohungen finde sich in allen Ländern. Die Alliierten habennach dem Krieg die Paragraphen 69, 70 des nationalsozialistischen Militärstrafgesetzbuches nicht aufgehoben. Auch nach den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland für Rechtsvorschriften aufgestellt hat, die unter der NS-Herrschaft erlassen wurden, ist die Strafbarkeit der Fahnenflucht keinesfalls als nichtig anzusehen. Dies erwähnt die Bundesregierung in ihrem Bericht vom 31. Oktober 1986 über Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht. Deshalb darf es keine Persilschein für Deserteure geben.
Auch der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung hat in seiner Antwort vom 20.September 1989 auf eine entsprechende Anfrage erklärt, daß die betreffenden Vorschriften über den Straftatbestand „Desertion“ und „Kriegsdienstverweigerung“ nicht von vorherein als pauschales Unrecht anzusehen seien. In der Antwort wird aufgeführt, eine pauschale Rehabilitierung der Deserteure würde im nachhinein diejenigen Soldaten, die geglaubt haben, ihrem Vaterland treu zu dienen und die im Krieg tapfer und ehrenvoll gekämpft haben, nachträglich ins Unrecht setzen.
Wir haben auch heute keine Veranlassung, von dieser Haltung Abstand zu nehmen. Wir wollen die Prüfung im Einzelfall, damit nicht neues Unrecht geschaffen wird.
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 09.05.1996
Weiterführende Quelle: „Wehrmachtsdeserteur wird Rente gekürzt“
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