US-Präsident schämt sich nicht seiner Tränen auf dem Roten Platz – Rußlands Veteranen paradieren an ungeliebter Führung vorbei und ertrotzen sich Anerkennung
Bill Clintons Einfühlungsvermögen war schon beim ersten Moskau-Besuch aufgefallen. Mit einem befreienden Schnitt durch den Knäul widerstrebender Gefühle bei Gastgebern und Gästen fand er gestern direkten Zugang zu den Herzen der Helden des Tages: Ihm seien, so bekannte er freimütig, beim Vorbeimarsch der Kriegsteilnehmer auf dem Roten Platz die Tränen gekommen.
Nach diesem Auftritt seines Gipfelgastes in der steinernen Einöde des Gedenkkomplexes auf dem „Verneigungshügel“ vor Moskaus westlichen Toren mußte sich auch Boris Jelzin Tränen der Rührung wegwischen. Und die Mienen der versammelten Veteranen erhellten sich: Erst nach Clintons Worten schwand ihr Mißtrauen, sie seien längst nichts weiter als eine willkommene Staffage im innen- und außenpolitischen Kalkül.
Bill Clinton stand mit seiner Reaktion auf den morgendlichen Aufmarsch über den Roten Platz nicht allein. Nur wenigen der greisen Frauen und Männer war nach festlicher Heiterkeit und Frohsinn zumute; sie waren eher in der Absicht angetreten, sich ihre Anerkennung vor der zumeist nicht geliebten Führung und vor der Welt zu ertrotzen.
Sie hielten sich verstohlen an den Händen, um die gebrechlichen Kameradinnen und Kameraden vor Schwäche und Sturz zu bewahren. Manchen, der besonders gefährdet schien, nahmen sie zudem in festen Schulterschluß. Die Usbeken und Tadschiken mit ihren muselmanischen Käppchen, die Kirgisen in ihren nomadischen Filzspitzhüten, die heute verfeindeten Armenier und Aserbaidschaner, Georgier und Ukrainer, allen voran natürlich die Partisanen aus Belorußland und viele ihrer russischen Schwestern und Brüder hatten wochenlang in Zeitungsspalten und auf Bildschirmen geklagt: Sie lebten nicht mehr in dem Land, „für das wir gekämpft haben.“
An diesem Morgen war Lenins Name, den meisten teuer, auf dem Mausoleum verhängt. Über diesem Tuch stand ein verachteter Minister und General, der ihren Festtag durch provozierende Tolpatschigkeit im Föderationsstaat Tschetschenien weltweit zum Zankapfel gemacht hatte. Ein Präsident, dem man aus demselben und anderen Gründen nicht mehr traute. Und dort, wo früher die sowjetischen Minister Platz fanden, standen die Lenker der USA und Englands, die den einstigen sowjetischen Alliierten vom Jahrestage der Normandie-Invasion ausgeschlossen und den Sieg so quasi zu einem angelsächsischen Unternehmen gemacht hatten. Auch dieser unverständigen und fremdgewordenen Welt, welche ihnen die Einzigartigkeit ihres Heldentums nicht mehr danken wollte, galt der Schulterschluß der Veteranen.
Es war offenbar diese mit Händen zu greifende Stimmung, die zu einer stillschweigenden Änderung der Regie unter den Hochgestellten aus dem In- und Ausland führte: „Keine rühmende Erwähnung Stalins mehr hier, keine Anspielung auf Tschetschenien dort. Nicht an diesem Tage jedenfalls, der den weltweiten Jubel über die Niederlage Hitler-Deutschlands noch einmal aufleben lassen sollte.
Mit großer Geschicklichkeit und menschlicher Wäre fand Bill Clinton die erlösenden Worte: Der Kalte Krieg sei schuld gewesen, daß in den USA und im Westen verkannt worden sei, was der Zweite Weltkrieg die Völker der Sowjetunion gekostet habe. Sie habe eines der größten Kapitel in der Geschichte menschlichen Heldentums geschrieben.
Clinton sagte dies, nachdem er das Schauspiel militärischer Kraftentfaltung um die pompöse Anlage auf dem Verneigungshügel wie die Mehrzahl der westlichen Gäste gemieden hatte und erst nachseinem Abschluß auf der Tribüne Platz nahm. Eine knappe Stunde lang waren alte und neue Panzer und Sturmgeschütze, Artillerie und taktische Raketen über die Minsker Chaussee und den Kutusow-Prospekt gerasselt. Das Getöse der Kampfflugzeuge und schweren strategischen Bomber löste in den betroffenen Stadtteilen hundertfach Autoalarm aus.
Paßte dieser Aufwand noch in die heutige Zeit? Ja, meinten die Vertreter des einst geschmähten Israel, Premier Rabin hatte es vorab per Fernsehinterview wissen lassen: Die Repräsentanten seines Staates würden an ausnahmslos allen Veranstaltungen teilnehmen, auch und gerade an der Militärparade. Denn die sowjetische Armee sei Hitler nicht nur bei seinem Vernichtungswerk an den Juden in den Arm gefallen. Viele der sowjetischen Völker selbst, voran die Slawen, seien zur physischen Ausrottung vorgesehen gewesen.
So kannte Ezer Waizman als erster israelischer Präsident auf Moskauer Boden keine Berührungsängste und sprach „der Roten Armee den Dank des israelischen Volkes für den Mut und das Heldentum ihrer Soldaten“ aus.
Amerikaner und Israelis haben Boris Jelzin vielleicht doch zu dem von diesem Gedenktag erhofften innenpolitischen Punktgewinn verholfen. Die Zeichen für diese Erwartung standen ursprünglich nicht gut. Denn allzu durchsichtig war, daß der ungeheure Medienaufwand um dieses Jubiläum recht kühler Berechnung entsprang: Mit nationalem Pathos rang das Regime um nicht weniger als um seine ideologische Legitimität. Boris Jelzin Tränen der Rührung kamen von Herzen: Der Auftakt zu den Festlichkeiten hatten seinen demoskopischen Wert als Staatschef um immerhin drei Punkte angehoben – von sechs auf neun.
Bildunterschrift: Abseits der martialischen Parade feiern Veteranen mit Musik und einem Tänzchen. Auf dem Lenin-Mausoleum: Ein verachteter Verteidigungsminister (salutierend) und ein ungeliebter Präsident (winkend).
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 10.05.1995
Weiterführende Quelle: Treffen Jelzin – Clinton im Oktober 1995
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