Trommelfeuer aus allen Rohren: 900 000 Rotarmisten traten auf breiter Front zur Großoffensive auf die Reichshauptstadt Berlin an
„Das war ein Himmelfahrtskommando. In der Nacht zum 16. April um drei Uhr morgens eröffneten tausende Geschütze gleichzeitig das Feuer. Wir hatten den Eindruck, daß jeder Quadratmeter Erde umgepflügt würde. Gegen Mittag setzte auf die Höhenstellung ein etwa 30 Minuten langer schwerer Feuerüberfall ein, der uns hart getroffen hat. Ein Durchbruch konnte nur unter großen Opfern auf unserer Seite verhindert werden. Jeder fünfte meiner Männer war gefallen, vermißt oder verwundet.“
Erinnerungen eines damals jungen Leutnants an eine der erbittertsten Schlachten der Militärgeschichte überhaupt, den Kampf um die Seelower Höhen im Oderbruch vom 16. bis 19. April 1945.In der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkrieges ließen offiziellen Angaben zufolge 33 000 sowjetische, 12 000 deutsche und 5 000 polnische Soldaten ihr Leben. Der Höhenzug 80 Kilometer östlich von Berlin war das letzte natürliche Hindernis für die Rote Armee auf dem Vormarsch auf die in Agonie liegende Reichshauptstadt.
Daß das Oderbruch einmal eine Kulturlandschaft gewesen war, konnte man der Gegend um Seelow auch lange nachdem die Waffen endlich schwiegen, nicht mehr ansehen. Zehntausende von Geschützen, Granatwerfern und die legendären „Katjuschas“ feuerten an jedem verhängnisvollen Morgen innerhalb von 20 Minuten mehr als 500 000 Geschütz-und Wurfgranaten ab. Auf einer Frontlänge von nur 35 Kilometern gingen fast 100 000 Tonnen Munition nieder. „Die stärkste Artillerie-Konzentration im Zweiten Weltkrieg überhaupt, sagt der frühere Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Wust. Doch das ist sehr vielspäter angelesenes Faktenwissen. „Wir hatten damals überhaupt keine Ahnung von den Kämpfen an der Oder. Wir wußten nicht, wer vor uns und links und rechts neben uns lag.“ Als 24jähriger Oberleutnant hat Wust auf den Seelower Höhen gekämpft. Er war Chef einer total unerfahrenen und schlecht ausgerüsteten Kompanie. Der Stalingraf-Kämpfer war vermutlich der einzige mit Erdkampf-Erfahrung in seiner Truppe. Ein zusammengewürfeltes Fahnenjunker-Regiment, das nach dem letzten Angriff auf Halle am 3. April, dem Karsamstag 1945, ostwärts verlegt worden war. Zuvor hatte man aus den verschütteten Franckeschen Stiftungen die Leichen von Hitlerjungen geborgen.
Tief haben sich in Wusts Erinnerungen die Bilder von der russischen Feuerwalze eingegraben. Niemals hat er den Krieg als so mörderisch empfunden wie bei dem sinnlosen Kampf in jenen Apriltagen. Seelow, sagt Wust, sei für ihn zum Inbegriff des Wahnsinns geworden. „Noch Jahre nach Kriegsende bin ich in Alpträumen durch Blut gewatet.“ Aber er ist nicht Pazifist geworden, sondern Berufssoldat: „nicht trotz, sondern wegen Seelow“.
Das Grauen ist auf beiden Seiten unvergessen. Generaloberst Tschuikow notierte später: „Die ganze Ostniederung scheint zu schwanken. Eine Wand aus hochgewirbeltem Staub und Rauch reicht bis zum Himmel. Im Streifen unserer Armee war die von Artilleriefeuer hervorgerufene Helligkeit so grell, daß wir auf dem Gefechtsstand im ersten Augenblick gar nicht bemerkten, daß auch Scheinwerfer das Kampffeld beleuchteten.“ Ein regelrechter Feuersturm ging nieder: 300 Geschützrohre auf einem Kilometer Front.
Beiderseits der Straße nach Seelow tobten die Kämpfe am heftigsten. Nachdem die Rote Armee den Hauptgraben, die dritte deutsche Verteidigungslinie, erreicht hatte, blieben die schweren Fahrzeuge in dem morastigen und verminten Gelände stecken. Selbst die Infanterie hatte Mühe vorwärtszukommen. „Die deutsche Panzerabwehr“, ist in einer Broschüre der Gedenkstätte Seelow zu lesen, „hielt eine furchtbare Ernte.“ Es sollte die letzte „Ernte“ dieses grausamen Krieges sein. Der heftige deutsche Widerstand, der den schnellen Vormarsch auf Berlin stoppen sollte, kam für Angreifer überraschend.
Stalin sah durch die Entwicklung an der Westfront seinen Zeitplan gefährdet. Doch der überraschende Abwehr-Erfolg der Deutschen war nur das letzte Aufbäumen vor der endgültigen Niederlage. Am 19. April konnten die abgekämpften, stark dezimierten Verbände der Überlegenheit der Sowjets nicht mehr standhalten. Mehr als 900 000 Sowjetsoldaten standen vielleicht 200 000 demoralisierte Wehrmachts-Angehörige gegenüber. Die Ostfront war endgültig zusammengebrochen.
„Mit fünf Schuß Munition sollten wir den russischen T 34 aufhalten“, schreibt ein damaliger Offiziers-Anwärter aus Berlin-Gatow 50 Jahre später ins Erinnerungsbuch der Gedenkstätte. “Welch gütiges Schicksal hat mich das Inferno überleben lassen“, notiert ein anderer. Ein paar Seiten weiter heißt es: „Als verwundeter Glückspilz gedenke ich meiner gefallener Kameraden.“ Auf einer Plexiglaswand sind – stellvertretend für mehr als 50 000 bei Seelow umgekommene Soldaten – die Namen von hundert Toten vermerkt, Rotarmisten und Volkssturmmänner nebeneinander. Die Jüngsten waren gerade 16, als sie „für das Vaterland“ starben.
Ein Feldwebel Müller, der sich vor ein paar Tagen in der dicken Kladde verewigt hat, scheint immer noch nichts begriffen zu haben: „Schade daß für die deutschen Soldaten, die besten der Welt, keine Gedenkstätte errichtet worden ist.“ Aber Seelow ist nicht zu einem Wallfahrtsort der Unbelehrbaren geworden. 35 000 Besucher kamen 1994, am Ende dieses Gedenkjahres werden es vermutlich noch mehr sein. Statt Brigaden, Jugendweihe-Gruppen und NVA-Abordnungen kommen heute vor allem Einzelbesucher. Das 1972 eingerichtete Museum, ausschließlich den Ruhmestaten der heldenhaften Sowjetarmee gewidmet, versucht die Geschehnisse des Frühjahrs 1945 nun ideologiefrei darzustellen. Der Zahl der gefallenen „Faschisten“ wurde früher schamvoll verschwiegen.
Die eigentliche Gedenkstätte ist unverändert geblieben, nur die Fahnenstangen stehen verwaist da. Frische Rosen schmücken mehrere russische Gräber. Auf das einstige Schlachtfeld blickt von einem hohen Steinsockel ein bronzener Panzersoldat hinunter. „Ihr gabt euer Leben, uns von Faschismus und Krieg zu befreien. Was in euch brannte, soll in uns Fackel sein“ ist in großen Lettern in das Ehrenmal eingemeißelt.
Aber es gibt auch neue Töne. Seelow, heißt es in einer gerade fertiggestellten Filmdokumentation, sei auch zum Symbol dafür geworden, wie schwer ein Krieg zu beenden ist.
Bildunterschrift: Großoffensive der Roten Armee zur Einnahme Berlins
Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 19.04.1995
Weiterführende Quelle: Gedenkstätte Seelower Höhen
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