Vor 125 Jahren, am 18. Januar 1871, wurde im französischen Versailles des Deutsche Kaiserreich proklamiert. Trotz der lang ersehnten staatlichen Einheit blieben viele politische Wünsche offen.

Die Atmosphäre in Frankreichs schönstem Königssaal war so frostig wie die Temperaturen in der unbeheizbaren Galerie niedrig. Kalt, nüchtern und leicht verstimmt präsentierte sich die Versammlung deutscher Fürsten und Militärs im großen Spiegelsaal von Versailles, der historischen Stunde wenig angemessen.

Seltsam verhalten erfüllten sich an diesem 18. Januar 1871 nach über einem halben Jahrhundert mühevollen Ringens die Wünsche und Sehnsüchte der Deutschen nach staatlicher Einheit. „In prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze“, beschrieb der Maler Anton von Werner die Szene, sei das Kaiserreich proklamiert worden. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck verkündete mit „hölzerner Stimme“ die Erhebung des preußischen Königs Wilhelm zum neuen Kaiser, dann „war der historische Akt vorbei: Es gab wieder ein Deutsches Reich und einen Deutschen Kaiser“. Die verfahrene Stimmung der Kaiserproklamation vor 125 Jahren hätte kaum besser die zwiespältigen Gefühle der jungen Nation mit ihrer eben errungenen Einheit verdeutlichen können. Das neue Deutsche Kaiserreich, das nach nur 43 Jahren in den Wirren des Ersten Weltkrieges versinken sollte, war ein künstliches Gebilde, das viele Fragen offen ließ. Nur mit seinem überragenden politischen Geschick hatte Otto von Bismarck die neue Macht im Herzen Europas zurechtzimmern können – aus Staatsräson. Wie hatte er es vor dem Norddeutschen Reichstag so treffliche formuliert: „setzen wir Deutschland sozusagen in den Sattel! Reiten wird es schon können.“

Tatsächlich war die vorläufige Lösung der „deutschen Frage“ nach dem deutsch-deutschen „Bruderkrieg“ von 1866 gescheitert und harrte einer Revision. Nachdem die militärische Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen zugunsten Preußens entschieden war, stand Europa vor grundlegenden Änderungen seines Machtgefüges, das seit den Tagen des Wiener Kongresses 1815 bestanden hatte. Der Sieg Preußens brachte nicht nur eine Gebietserweiterung des nördlichen Königreiches, sondern auch die Auflösung des Deutschen Bundes, die Zusammenfassung der nördlich der Mainlinie liegenden Fürstenstaaten im Norddeutschen Bund und die Zustimmung des österreichischen Kaisers Franz Joseph zur Neugestaltung Deutschlands ohne Beteiligung des Habsburger Reiches.

Die Jahre zwischen 1866 und 1870 waren Jahre des nationalpolitischen Stillstandes, die es aus preußischer Sicht dringend zu überwinden galt. Als die französische Außenpolitik nach 1866 eine aggressive Wendung nach und für seine „wohlwollende Neutralität“ während der preußisch-österreichischen Auseinandersetzung von den beiden deutschen Mächten polternd mal das linke Rheinufer, mal Luxemburg forderte und schließlich 1868 die Kandidatur des Sigmaringer Hohenzollerprinzen für den spanischen Königsthron aufs propagandistische Horn nahm, nutzte Bismarck zielstrebig die nationalen Emotionen seiner Landsleute aus. Seine scharfe Formulierung der „Emser Depesche“, die einer Demütigung Frankreichs gleichkam, brachte das Faß zum Überlaufen.

Der folgende Krieg zog auch die süddeutschen Staaten in seinen Bann, die mit dem Norddeutschen Bund durch Schutz- und Trutzbündnisse verbunden waren. Der bayerische Ministerpräsident stellte trocken fest: „Die spanische Kandidatur verschwindet, die deutsche Frage beginnt.“

So verhandelte Bismarck, während sich die Niederlage Frankreichs abzuzeichnen begann, kräftig hinter den Kulissen mit den süddeutschen Regierungen über einen Beitritt zum Norddeutschen Bund. Durch die Bewilligung zahlreicher, aber nahezu bedeutungsloser Reservatrechte gelang ihm dies auch. Den bayerischen König Ludwig II. konnte Bismarck mit Hilfe einer kräftigen Finanzspritze dazu bewegen, dem preußischen König den Kaisertitel anzutragen. In aller Eile, den Schwung des Sieges ausnutzend, wurde die Kaiserproklamation noch in Paris vollzogen.

Nicht zur Freude aller. Prinz Otto von Wittelsbach war es „unendlich weh und schmerzlich“ zumute, als sich seine Bayern vor dem neuen Kaiser verneigten. Und selbst der Kaiserkandidat war nicht unbedingt begeistert von seiner Rangerhöhung. Der von ihm gewünschte Titel eines „Kaisers von Deutschland“ stieß auf den Widerwillen der immer noch eifersüchtig über ihren letzten Rest von Souveränität wachenden Landesfürsten. Der Großherzog von Baden umging in Versailles die knifflige Frage, welches Kaisertum eigentlich proklamiert werden sollte, indem er einfach „Es lebe Kaiser Wilhelm“ rief und mit einem sechsfach donnernden „Hurra“ den Staatsakt rettete.

Für das aus der Taufe gehobenen Kaiserreich stellte sich die schwere Aufgabe, ein neues europäisches Gleichgewicht wiederherzustellen. In der deutschen Annexion Elsaß-Lothringen lag jedoch genug Konfliktstoff für eine erneute Auseinandersetzung mit Frankreich. Nur Bismarcks ausgeklügeltes Bündnissystem und sein erfolgreiches Streben, Frankreich zu isolieren, konnten den drohenden europäischen Krieg verhindert. Nach seinem Abgang 1890 strudelte das ungeliebte Kaiserreich endgültig dem Abgrund zu. Am Ende des Weges stand 1919 wieder Versailles – das Deutsche Reich verlor am gleichen Ort seine Größe, die es 1871 gewonnen hatte.

Bildunterschrift: Als in Versailles das Deutsche Kaiserreich aus der Taufe gehoben wurde, war die Beschießung von Paris noch in vollem Gange. Am 28. Januar 1871 kapitulierte die französische Hauptstadt und am 1. März zogen deutsche Truppen am Arc de Triomphe vorbei (Foto recht, Kreidelithographie) und
Kaiser Wilhelm I. 1871 in Zivil. In seiner vor der Proklamation verlesenen Erklärung an das deutsche Volk betonte er, die Güter und Gaben des Friedens mehren zu wollen. Die Reichsgründung löste im deutschen Wirtschaftsraum einen Boom aus, die „Gründerzeit“.

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung vom 12.01.1996

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